Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812.Der Pokal. unsern Festpokal hier haben, der dann rundumgehn soll! Er wollte aufstehen, aber die Mutter winkte ihm, sitzen zu bleiben; du findest ihn doch nicht, sagte sie, denn ich habe alles Silberzeug anders gepackt. Sie ging schnell hinaus, um ihn selber zu suchen. Was unsere Alte heut geschäftig und munter ist, sagte der Kaufmann, so dick und breit sie ist, so behende kann sie sich doch noch be- wegen, obgleich sie schon sechszig zählt; ihr Ge- sicht sieht immer heiter und freudig aus, und heut ist sie besonders glücklich, weil sie sich in der Schön- heit ihrer Tochter wieder verjüngt. Der Fremde gab ihm Beifall, und die Mutter kam mit dem Pokal zurück. Man schenkte ihn voll Weins, und oben vom Tisch fing er an herum zu gehn, indem jeder die Gesundheit dessen ausbrachte, was ihm das liebste und erwünschteste war. Die Braut trank das Wohlseyn ihres Gatten, dieser die Liebe seiner schönen Julie, und so that jeder nach der Reihe. Die Mutter zögerte, als der Becher zu ihr kam. Nur dreist! sagte der Offizier etwas rauh und voreilig, wir wissen ja doch, daß sie alle Männer für ungetreu und keinen einzigen der Liebe einer Frau würdig halten; was ist Ihnen also das Liebste? Die Mutter sah ihn an, indem sich über die Milde ihres Antlitzes plötzlich ein zürnender Ernst verbreitete. Da mein Sohn, sagte sie, mich so genau kennt, und so strenge meine Gemüths- art tadelt, so sey es mir auch erlaubt, nicht aus- zusprechen, was ich jetzt eben dachte, und suche er nur dasjenige, was er als meine Ueberzeugung Der Pokal. unſern Feſtpokal hier haben, der dann rundumgehn ſoll! Er wollte aufſtehen, aber die Mutter winkte ihm, ſitzen zu bleiben; du findeſt ihn doch nicht, ſagte ſie, denn ich habe alles Silberzeug anders gepackt. Sie ging ſchnell hinaus, um ihn ſelber zu ſuchen. Was unſere Alte heut geſchaͤftig und munter iſt, ſagte der Kaufmann, ſo dick und breit ſie iſt, ſo behende kann ſie ſich doch noch be- wegen, obgleich ſie ſchon ſechszig zaͤhlt; ihr Ge- ſicht ſieht immer heiter und freudig aus, und heut iſt ſie beſonders gluͤcklich, weil ſie ſich in der Schoͤn- heit ihrer Tochter wieder verjuͤngt. Der Fremde gab ihm Beifall, und die Mutter kam mit dem Pokal zuruͤck. Man ſchenkte ihn voll Weins, und oben vom Tiſch fing er an herum zu gehn, indem jeder die Geſundheit deſſen ausbrachte, was ihm das liebſte und erwuͤnſchteſte war. Die Braut trank das Wohlſeyn ihres Gatten, dieſer die Liebe ſeiner ſchoͤnen Julie, und ſo that jeder nach der Reihe. Die Mutter zoͤgerte, als der Becher zu ihr kam. Nur dreiſt! ſagte der Offizier etwas rauh und voreilig, wir wiſſen ja doch, daß ſie alle Maͤnner fuͤr ungetreu und keinen einzigen der Liebe einer Frau wuͤrdig halten; was iſt Ihnen alſo das Liebſte? Die Mutter ſah ihn an, indem ſich uͤber die Milde ihres Antlitzes ploͤtzlich ein zuͤrnender Ernſt verbreitete. Da mein Sohn, ſagte ſie, mich ſo genau kennt, und ſo ſtrenge meine Gemuͤths- art tadelt, ſo ſey es mir auch erlaubt, nicht aus- zuſprechen, was ich jetzt eben dachte, und ſuche er nur dasjenige, was er als meine Ueberzeugung <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0462" n="451"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Der Pokal</hi>.</fw><lb/> unſern Feſtpokal hier haben, der dann rundum<lb/> gehn ſoll! Er wollte aufſtehen, aber die Mutter<lb/> winkte ihm, ſitzen zu bleiben; du findeſt ihn doch<lb/> nicht, ſagte ſie, denn ich habe alles Silberzeug<lb/> anders gepackt. Sie ging ſchnell hinaus, um ihn<lb/> ſelber zu ſuchen. Was unſere Alte heut geſchaͤftig<lb/> und munter iſt, ſagte der Kaufmann, ſo dick und<lb/> breit ſie iſt, ſo behende kann ſie ſich doch noch be-<lb/> wegen, obgleich ſie ſchon ſechszig zaͤhlt; ihr Ge-<lb/> ſicht ſieht immer heiter und freudig aus, und heut<lb/> iſt ſie beſonders gluͤcklich, weil ſie ſich in der Schoͤn-<lb/> heit ihrer Tochter wieder verjuͤngt. Der Fremde<lb/> gab ihm Beifall, und die Mutter kam mit dem<lb/> Pokal zuruͤck. Man ſchenkte ihn voll Weins,<lb/> und oben vom Tiſch fing er an herum zu gehn,<lb/> indem jeder die Geſundheit deſſen ausbrachte, was<lb/> ihm das liebſte und erwuͤnſchteſte war. Die Braut<lb/> trank das Wohlſeyn ihres Gatten, dieſer die Liebe<lb/> ſeiner ſchoͤnen Julie, und ſo that jeder nach der<lb/> Reihe. Die Mutter zoͤgerte, als der Becher zu<lb/> ihr kam. Nur dreiſt! ſagte der Offizier etwas<lb/> rauh und voreilig, wir wiſſen ja doch, daß ſie alle<lb/> Maͤnner fuͤr ungetreu und keinen einzigen der Liebe<lb/> einer Frau wuͤrdig halten; was iſt Ihnen alſo das<lb/> Liebſte? Die Mutter ſah ihn an, indem ſich uͤber<lb/> die Milde ihres Antlitzes ploͤtzlich ein zuͤrnender<lb/> Ernſt verbreitete. Da mein Sohn, ſagte ſie, mich<lb/> ſo genau kennt, und ſo ſtrenge meine Gemuͤths-<lb/> art tadelt, ſo ſey es mir auch erlaubt, nicht aus-<lb/> zuſprechen, was ich jetzt eben dachte, und ſuche<lb/> er nur dasjenige, was er als meine Ueberzeugung<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [451/0462]
Der Pokal.
unſern Feſtpokal hier haben, der dann rundum
gehn ſoll! Er wollte aufſtehen, aber die Mutter
winkte ihm, ſitzen zu bleiben; du findeſt ihn doch
nicht, ſagte ſie, denn ich habe alles Silberzeug
anders gepackt. Sie ging ſchnell hinaus, um ihn
ſelber zu ſuchen. Was unſere Alte heut geſchaͤftig
und munter iſt, ſagte der Kaufmann, ſo dick und
breit ſie iſt, ſo behende kann ſie ſich doch noch be-
wegen, obgleich ſie ſchon ſechszig zaͤhlt; ihr Ge-
ſicht ſieht immer heiter und freudig aus, und heut
iſt ſie beſonders gluͤcklich, weil ſie ſich in der Schoͤn-
heit ihrer Tochter wieder verjuͤngt. Der Fremde
gab ihm Beifall, und die Mutter kam mit dem
Pokal zuruͤck. Man ſchenkte ihn voll Weins,
und oben vom Tiſch fing er an herum zu gehn,
indem jeder die Geſundheit deſſen ausbrachte, was
ihm das liebſte und erwuͤnſchteſte war. Die Braut
trank das Wohlſeyn ihres Gatten, dieſer die Liebe
ſeiner ſchoͤnen Julie, und ſo that jeder nach der
Reihe. Die Mutter zoͤgerte, als der Becher zu
ihr kam. Nur dreiſt! ſagte der Offizier etwas
rauh und voreilig, wir wiſſen ja doch, daß ſie alle
Maͤnner fuͤr ungetreu und keinen einzigen der Liebe
einer Frau wuͤrdig halten; was iſt Ihnen alſo das
Liebſte? Die Mutter ſah ihn an, indem ſich uͤber
die Milde ihres Antlitzes ploͤtzlich ein zuͤrnender
Ernſt verbreitete. Da mein Sohn, ſagte ſie, mich
ſo genau kennt, und ſo ſtrenge meine Gemuͤths-
art tadelt, ſo ſey es mir auch erlaubt, nicht aus-
zuſprechen, was ich jetzt eben dachte, und ſuche
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