Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812.Erste Abtheilung. Manfreds bekannte Stimme, indem er mit seinemnatürlichen Gange näher kam. O er ist unerträg- lich, sagte Rosalie; glaubst du denn, daß ich nicht eben so stark schaudre, wenn ich gleich erkenne, daß das Gespenst nur eine weiße Maske ist, ge- rade deshalb, weil du, der Bekannte der Be- freundete, mir so grauenvoll erscheinst? Diese Vermischung dessen, was uns lieb und entsetzlich ist, ist gerade das Widerwärtigste. So will er auch immer nicht begreifen, daß ich mich vor ihm fürchte, wenn er, wandelt ihn einmal die Laune an, den Betrunkenen so natürlich spielt, und daß ich eben so gern einen wirklich Berausch- ten oder Wahnsinnigen vor mir sehen möchte. Geh, du Ungezogener, und wische dir den Pu- der aus dem Gesichte. Nicht eher, sagte Manfred, bis du, und I. [ 30 ]
Erſte Abtheilung. Manfreds bekannte Stimme, indem er mit ſeinemnatuͤrlichen Gange naͤher kam. O er iſt unertraͤg- lich, ſagte Roſalie; glaubſt du denn, daß ich nicht eben ſo ſtark ſchaudre, wenn ich gleich erkenne, daß das Geſpenſt nur eine weiße Maske iſt, ge- rade deshalb, weil du, der Bekannte der Be- freundete, mir ſo grauenvoll erſcheinſt? Dieſe Vermiſchung deſſen, was uns lieb und entſetzlich iſt, iſt gerade das Widerwaͤrtigſte. So will er auch immer nicht begreifen, daß ich mich vor ihm fuͤrchte, wenn er, wandelt ihn einmal die Laune an, den Betrunkenen ſo natuͤrlich ſpielt, und daß ich eben ſo gern einen wirklich Berauſch- ten oder Wahnſinnigen vor mir ſehen moͤchte. Geh, du Ungezogener, und wiſche dir den Pu- der aus dem Geſichte. Nicht eher, ſagte Manfred, bis du, und I. [ 30 ]
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Erſte Abtheilung.
Manfreds bekannte Stimme, indem er mit ſeinem
natuͤrlichen Gange naͤher kam. O er iſt unertraͤg-
lich, ſagte Roſalie; glaubſt du denn, daß ich nicht
eben ſo ſtark ſchaudre, wenn ich gleich erkenne,
daß das Geſpenſt nur eine weiße Maske iſt, ge-
rade deshalb, weil du, der Bekannte der Be-
freundete, mir ſo grauenvoll erſcheinſt? Dieſe
Vermiſchung deſſen, was uns lieb und entſetzlich
iſt, iſt gerade das Widerwaͤrtigſte. So will er
auch immer nicht begreifen, daß ich mich vor
ihm fuͤrchte, wenn er, wandelt ihn einmal die
Laune an, den Betrunkenen ſo natuͤrlich ſpielt,
und daß ich eben ſo gern einen wirklich Berauſch-
ten oder Wahnſinnigen vor mir ſehen moͤchte.
Geh, du Ungezogener, und wiſche dir den Pu-
der aus dem Geſichte.
Nicht eher, ſagte Manfred, bis du, und
Auguſte, und Clara, mir jede einen Kuß gege-
ben haben. Er ging auf ſie zu, die drei Frauen
aber flohen mit den Lichtern, die ſie in den
Haͤnden hielten, durch den offenen Saal in den
Garten, und die weiße behelmte Geſtalt rannte
ihnen nach. Man hoͤrte ſie kreiſchen, und ſah
die drei Lichter und ſchlanken Geſtalten durch
den Buchengang ſchweben, dann um die Laube
biegen, und dem Springbrunnen voruͤber ſich in
den großen Baumgang verlieren. Ploͤtzlich ver-
nahm man ein lautes Aufrauſchen im groͤßten
Brunnen, wie wenn eine große Wucht hinein
ſtuͤrzte, und das Waſſer klatſchend daruͤber zu-
I. [ 30 ]
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