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Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812.

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Einleitung.
gescheut, seine innersten Gefühle kund zu thun,
und so wirft er sich oft gewaltthätig in eine
Laune, die ihn quälen kann, indem sie andre
ergötzt.

Wie wird es aber, fragte Theodor weiter,
mit den Kindern gehalten? Wahrscheinlich hat
sich doch auch zu ihm die neumodische und weich-
liche Erziehung erstreckt, jene allerliebste Confu-
sion, die jeden Gegenwärtigen im ununterbro-
chenen Schwindel erhält, indem die Kinderstube
allenthalben, im Gesellschaftszimmer, im Garten
und in jedem Winkel des Hauses ist, und kein
Gespräch und keine Ruhe zuläßt, sondern nur
ewiges Geschrei und Erziehen sich hervor thut,
eine unsterbliche Zerstreutheit im scheinbaren Acht-
geben; jenes Chaos der meisten Haushaltungen,
das mir so erschrecklich dünkt, daß ich die neuen
Pädagogen, die es veranlaßt haben, und jene
Entdecker der Mütterlichkeit gern als Verdammte
in einen eignen Kreis der Danteschen Hölle hin-
ein gedichtet hätte, der nur eine solche neuer-
fundene allgegenwärtige Kinderstube mit all ihrem
Wirwarr und Schariwari moderner Elternliebe
darzustellen brauchte, um sich als ein nicht un-
würdiger Beitrag jener furchtbaren Zirkel anzu-
schließen.

Auch von dieser neuen, fast allgemein ver-
breiteten Krankheit, erzählte Lothar, findest du
in seinem Hause nichts: seine junge Gattinn ist
eine wahre Mutter, fast so, wie es unsre Müt-

Einleitung.
geſcheut, ſeine innerſten Gefuͤhle kund zu thun,
und ſo wirft er ſich oft gewaltthaͤtig in eine
Laune, die ihn quaͤlen kann, indem ſie andre
ergoͤtzt.

Wie wird es aber, fragte Theodor weiter,
mit den Kindern gehalten? Wahrſcheinlich hat
ſich doch auch zu ihm die neumodiſche und weich-
liche Erziehung erſtreckt, jene allerliebſte Confu-
ſion, die jeden Gegenwaͤrtigen im ununterbro-
chenen Schwindel erhaͤlt, indem die Kinderſtube
allenthalben, im Geſellſchaftszimmer, im Garten
und in jedem Winkel des Hauſes iſt, und kein
Geſpraͤch und keine Ruhe zulaͤßt, ſondern nur
ewiges Geſchrei und Erziehen ſich hervor thut,
eine unſterbliche Zerſtreutheit im ſcheinbaren Acht-
geben; jenes Chaos der meiſten Haushaltungen,
das mir ſo erſchrecklich duͤnkt, daß ich die neuen
Paͤdagogen, die es veranlaßt haben, und jene
Entdecker der Muͤtterlichkeit gern als Verdammte
in einen eignen Kreis der Danteſchen Hoͤlle hin-
ein gedichtet haͤtte, der nur eine ſolche neuer-
fundene allgegenwaͤrtige Kinderſtube mit all ihrem
Wirwarr und Schariwari moderner Elternliebe
darzuſtellen brauchte, um ſich als ein nicht un-
wuͤrdiger Beitrag jener furchtbaren Zirkel anzu-
ſchließen.

Auch von dieſer neuen, faſt allgemein ver-
breiteten Krankheit, erzaͤhlte Lothar, findeſt du
in ſeinem Hauſe nichts: ſeine junge Gattinn iſt
eine wahre Mutter, faſt ſo, wie es unſre Muͤt-

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[42/0053] Einleitung. geſcheut, ſeine innerſten Gefuͤhle kund zu thun, und ſo wirft er ſich oft gewaltthaͤtig in eine Laune, die ihn quaͤlen kann, indem ſie andre ergoͤtzt. Wie wird es aber, fragte Theodor weiter, mit den Kindern gehalten? Wahrſcheinlich hat ſich doch auch zu ihm die neumodiſche und weich- liche Erziehung erſtreckt, jene allerliebſte Confu- ſion, die jeden Gegenwaͤrtigen im ununterbro- chenen Schwindel erhaͤlt, indem die Kinderſtube allenthalben, im Geſellſchaftszimmer, im Garten und in jedem Winkel des Hauſes iſt, und kein Geſpraͤch und keine Ruhe zulaͤßt, ſondern nur ewiges Geſchrei und Erziehen ſich hervor thut, eine unſterbliche Zerſtreutheit im ſcheinbaren Acht- geben; jenes Chaos der meiſten Haushaltungen, das mir ſo erſchrecklich duͤnkt, daß ich die neuen Paͤdagogen, die es veranlaßt haben, und jene Entdecker der Muͤtterlichkeit gern als Verdammte in einen eignen Kreis der Danteſchen Hoͤlle hin- ein gedichtet haͤtte, der nur eine ſolche neuer- fundene allgegenwaͤrtige Kinderſtube mit all ihrem Wirwarr und Schariwari moderner Elternliebe darzuſtellen brauchte, um ſich als ein nicht un- wuͤrdiger Beitrag jener furchtbaren Zirkel anzu- ſchließen. Auch von dieſer neuen, faſt allgemein ver- breiteten Krankheit, erzaͤhlte Lothar, findeſt du in ſeinem Hauſe nichts: ſeine junge Gattinn iſt eine wahre Mutter, faſt ſo, wie es unſre Muͤt-

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Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 42. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812/53>, abgerufen am 24.11.2024.