Ernst fort, auch mit denen, die schon dem Ge- danken verwandter scheinen, wie das Ohr und das noch hellere Auge. Wie wundersam, sich nur in eine Farbe als bloße Farbe recht zu ver- tiefen? Wie kommt es denn, daß das helle ferne Blau des Himmels unsre Sehnsucht erweckt, und des Abends Purpurroth uns rührt, ein helles goldenes Gelb uns trösten und beruhigen kann, und woher nur dieses unermüdete Ent- zücken am frischen Grün, an dem sich der Durst des Auges nie satt trinken mag?
Auf heiliger Stätte stehen wir hier, sagte Friedrich, hier will der Traum in uns in noch süßeren, noch geheimnißvolleren Traum zerflie- ßen, um keine Erklärung, wohl aber ein Ver- ständniß, ein Sein im Befreundeten selbst hin- ein zu wachsen und zu erbilden: hier findet der Seher die göttlichen ewigen Kräfte ihm begeg- nend, und der Unheilige läßt sich an der nem- lichen Schwelle zum Götzendienste verlocken.
Die Kunst, sagte Manfred, hat diese Ge- heimnisse wohl unter ihren vielfarbigen Mantel genommen, um sie den Menschen sittsam und in fliehenden Augenblicken zu zeigen, dann hat sie sie über sich selbst vergessen, und phantasirt seitdem so oft in allen Tönen und Erinnerun- gen, um diese alten Töne und Erinnerungen wieder zu finden. Daher die wilde Verzweif- lung in der Luft mancher bacchantischen Dichter; es reißen sich wohl Laute in schmerzhafter üppi-
Einleitung.
Ernſt fort, auch mit denen, die ſchon dem Ge- danken verwandter ſcheinen, wie das Ohr und das noch hellere Auge. Wie wunderſam, ſich nur in eine Farbe als bloße Farbe recht zu ver- tiefen? Wie kommt es denn, daß das helle ferne Blau des Himmels unſre Sehnſucht erweckt, und des Abends Purpurroth uns ruͤhrt, ein helles goldenes Gelb uns troͤſten und beruhigen kann, und woher nur dieſes unermuͤdete Ent- zuͤcken am friſchen Gruͤn, an dem ſich der Durſt des Auges nie ſatt trinken mag?
Auf heiliger Staͤtte ſtehen wir hier, ſagte Friedrich, hier will der Traum in uns in noch ſuͤßeren, noch geheimnißvolleren Traum zerflie- ßen, um keine Erklaͤrung, wohl aber ein Ver- ſtaͤndniß, ein Sein im Befreundeten ſelbſt hin- ein zu wachſen und zu erbilden: hier findet der Seher die goͤttlichen ewigen Kraͤfte ihm begeg- nend, und der Unheilige laͤßt ſich an der nem- lichen Schwelle zum Goͤtzendienſte verlocken.
Die Kunſt, ſagte Manfred, hat dieſe Ge- heimniſſe wohl unter ihren vielfarbigen Mantel genommen, um ſie den Menſchen ſittſam und in fliehenden Augenblicken zu zeigen, dann hat ſie ſie uͤber ſich ſelbſt vergeſſen, und phantaſirt ſeitdem ſo oft in allen Toͤnen und Erinnerun- gen, um dieſe alten Toͤne und Erinnerungen wieder zu finden. Daher die wilde Verzweif- lung in der Luft mancher bacchantiſchen Dichter; es reißen ſich wohl Laute in ſchmerzhafter uͤppi-
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Einleitung.
Ernſt fort, auch mit denen, die ſchon dem Ge-
danken verwandter ſcheinen, wie das Ohr und
das noch hellere Auge. Wie wunderſam, ſich
nur in eine Farbe als bloße Farbe recht zu ver-
tiefen? Wie kommt es denn, daß das helle
ferne Blau des Himmels unſre Sehnſucht erweckt,
und des Abends Purpurroth uns ruͤhrt, ein
helles goldenes Gelb uns troͤſten und beruhigen
kann, und woher nur dieſes unermuͤdete Ent-
zuͤcken am friſchen Gruͤn, an dem ſich der Durſt
des Auges nie ſatt trinken mag?
Auf heiliger Staͤtte ſtehen wir hier, ſagte
Friedrich, hier will der Traum in uns in noch
ſuͤßeren, noch geheimnißvolleren Traum zerflie-
ßen, um keine Erklaͤrung, wohl aber ein Ver-
ſtaͤndniß, ein Sein im Befreundeten ſelbſt hin-
ein zu wachſen und zu erbilden: hier findet der
Seher die goͤttlichen ewigen Kraͤfte ihm begeg-
nend, und der Unheilige laͤßt ſich an der nem-
lichen Schwelle zum Goͤtzendienſte verlocken.
Die Kunſt, ſagte Manfred, hat dieſe Ge-
heimniſſe wohl unter ihren vielfarbigen Mantel
genommen, um ſie den Menſchen ſittſam und
in fliehenden Augenblicken zu zeigen, dann hat
ſie ſie uͤber ſich ſelbſt vergeſſen, und phantaſirt
ſeitdem ſo oft in allen Toͤnen und Erinnerun-
gen, um dieſe alten Toͤne und Erinnerungen
wieder zu finden. Daher die wilde Verzweif-
lung in der Luft mancher bacchantiſchen Dichter;
es reißen ſich wohl Laute in ſchmerzhafter uͤppi-
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Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 85. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812/96>, abgerufen am 21.11.2024.
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