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Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812.

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Einleitung.
ger Freude, in der Angst keine Scheu mehr
achtend, aus dem Innersten hervor, und ver-
rathen, was der heiligere Wahnsinn verschweigt.
So wollten wild schwärmende Corybanten und
Priesterinnen ein Unbekanntes in Raserei ent-
decken, und alle Luft die über die Gränze schweift
nippt von dem Kelch der Ambrosia, um Angst
und Wuth mit der Freude laut tobend zu ver-
wirren. Auch der Dichter wird noch einmal
erscheinen, der dem Grausen und der Wollust
mehr die Zunge lößt.

Schon glaub' ich die Mänade zu hören,
sagte Ernst, nur Paukenton und Cymbelnklang
fehlt, um dreister die Worte tanzen zu lassen,
und die Gedanken in wilderer Geberde.

Seyn wir auch im Phantasiren mäßig, und
auch im Aberwitz noch ein wenig witzig, bemerkte
Wilibald.

Ja wohl, fügte Auguste hinzu, sonst könnte
man vor dergleichen Reden eben so angst, wie
vor Gespenstergeschichten werden; das beste ist,
daß keiner sich leicht dergleichen wahrhaft zu
Gemüth zieht, sonst möchten sich vielleicht wun-
derliche Erscheinungen aufthun.

Du sprichst wie eine Seherinn, sagte Man-
fred, dieser Leichtsinn und diese Trägheit erhält
den Menschen und giebt ihm Kraft und Aus-
dauer zu allem Guten, aber beide reißen ihn
auch immerdar zurück von allem Guten und

Einleitung.
ger Freude, in der Angſt keine Scheu mehr
achtend, aus dem Innerſten hervor, und ver-
rathen, was der heiligere Wahnſinn verſchweigt.
So wollten wild ſchwaͤrmende Corybanten und
Prieſterinnen ein Unbekanntes in Raſerei ent-
decken, und alle Luft die uͤber die Graͤnze ſchweift
nippt von dem Kelch der Ambroſia, um Angſt
und Wuth mit der Freude laut tobend zu ver-
wirren. Auch der Dichter wird noch einmal
erſcheinen, der dem Grauſen und der Wolluſt
mehr die Zunge loͤßt.

Schon glaub' ich die Maͤnade zu hoͤren,
ſagte Ernſt, nur Paukenton und Cymbelnklang
fehlt, um dreiſter die Worte tanzen zu laſſen,
und die Gedanken in wilderer Geberde.

Seyn wir auch im Phantaſiren maͤßig, und
auch im Aberwitz noch ein wenig witzig, bemerkte
Wilibald.

Ja wohl, fuͤgte Auguſte hinzu, ſonſt koͤnnte
man vor dergleichen Reden eben ſo angſt, wie
vor Geſpenſtergeſchichten werden; das beſte iſt,
daß keiner ſich leicht dergleichen wahrhaft zu
Gemuͤth zieht, ſonſt moͤchten ſich vielleicht wun-
derliche Erſcheinungen aufthun.

Du ſprichſt wie eine Seherinn, ſagte Man-
fred, dieſer Leichtſinn und dieſe Traͤgheit erhaͤlt
den Menſchen und giebt ihm Kraft und Aus-
dauer zu allem Guten, aber beide reißen ihn
auch immerdar zuruͤck von allem Guten und

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[86/0097] Einleitung. ger Freude, in der Angſt keine Scheu mehr achtend, aus dem Innerſten hervor, und ver- rathen, was der heiligere Wahnſinn verſchweigt. So wollten wild ſchwaͤrmende Corybanten und Prieſterinnen ein Unbekanntes in Raſerei ent- decken, und alle Luft die uͤber die Graͤnze ſchweift nippt von dem Kelch der Ambroſia, um Angſt und Wuth mit der Freude laut tobend zu ver- wirren. Auch der Dichter wird noch einmal erſcheinen, der dem Grauſen und der Wolluſt mehr die Zunge loͤßt. Schon glaub' ich die Maͤnade zu hoͤren, ſagte Ernſt, nur Paukenton und Cymbelnklang fehlt, um dreiſter die Worte tanzen zu laſſen, und die Gedanken in wilderer Geberde. Seyn wir auch im Phantaſiren maͤßig, und auch im Aberwitz noch ein wenig witzig, bemerkte Wilibald. Ja wohl, fuͤgte Auguſte hinzu, ſonſt koͤnnte man vor dergleichen Reden eben ſo angſt, wie vor Geſpenſtergeſchichten werden; das beſte iſt, daß keiner ſich leicht dergleichen wahrhaft zu Gemuͤth zieht, ſonſt moͤchten ſich vielleicht wun- derliche Erſcheinungen aufthun. Du ſprichſt wie eine Seherinn, ſagte Man- fred, dieſer Leichtſinn und dieſe Traͤgheit erhaͤlt den Menſchen und giebt ihm Kraft und Aus- dauer zu allem Guten, aber beide reißen ihn auch immerdar zuruͤck von allem Guten und

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Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 86. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812/97>, abgerufen am 21.11.2024.