Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 2. Berlin, 1812.Däumchen. Da unten ist der Städte Zahl, Da wohnen Noth und Leiden, Die Armuth klagt im stillen Thal, Sich wollen Ehleut scheiden, Da wandert fort, eilt weg so schnell Der muntre lustge Junggesell. Und will die Lieb' ihn listig fangen, Lockt ihn die Sehnsucht und Genuß, Er küßt die Lippen und die Wangen, Vermeidt des Ehestands Verdruß, Spannt man die Heiraths-Netze aus Gleich dreht der Knabe sich zur Thür hinaus. Was da unten friedlich, niedlich, einsam und rührend die Hütten liegen und das Gärtchen dane- ben. Schöne romantische Natur ist doch etwas Trefliches, und darein die Häuser, der Rauch von den Schornsteinen, das ist so anlockend, weckt sehn- süchtige Gedanken, daß man dort seyn möchte, sich einwohnen, der Natur leben. -- Aber seh ich recht? Kriecht da nicht unten am Felsen mein Freund Al- fred umher und botanisirt? -- Richtig! das ist seine philosophische Miene, seine nachdenkliche Stel- lung, sein Kopfschütteln über das Universum. -- Alfred! Komm zu mir herauf, theurer Geliebter, laß da unten die Moose und Schwämme in ihrer Dunkelheit und falle an ein Menschenherz, das Dir entgegen zappelt! -- Teufelskerl von einem Freund; da schlägt er erst noch ein Stück vom Felsen herunter, um zu wissen, ob auf Granit oder Porphyr unsre zärtliche Scene des Wieder- findens vor sich gehen soll. Daͤumchen. Da unten iſt der Staͤdte Zahl, Da wohnen Noth und Leiden, Die Armuth klagt im ſtillen Thal, Sich wollen Ehleut ſcheiden, Da wandert fort, eilt weg ſo ſchnell Der muntre luſtge Junggeſell. Und will die Lieb' ihn liſtig fangen, Lockt ihn die Sehnſucht und Genuß, Er kuͤßt die Lippen und die Wangen, Vermeidt des Eheſtands Verdruß, Spannt man die Heiraths-Netze aus Gleich dreht der Knabe ſich zur Thuͤr hinaus. Was da unten friedlich, niedlich, einſam und ruͤhrend die Huͤtten liegen und das Gaͤrtchen dane- ben. Schoͤne romantiſche Natur iſt doch etwas Trefliches, und darein die Haͤuſer, der Rauch von den Schornſteinen, das iſt ſo anlockend, weckt ſehn- ſuͤchtige Gedanken, daß man dort ſeyn moͤchte, ſich einwohnen, der Natur leben. — Aber ſeh ich recht? Kriecht da nicht unten am Felſen mein Freund Al- fred umher und botaniſirt? — Richtig! das iſt ſeine philoſophiſche Miene, ſeine nachdenkliche Stel- lung, ſein Kopfſchuͤtteln uͤber das Univerſum. — Alfred! Komm zu mir herauf, theurer Geliebter, laß da unten die Mooſe und Schwaͤmme in ihrer Dunkelheit und falle an ein Menſchenherz, das Dir entgegen zappelt! — Teufelskerl von einem Freund; da ſchlaͤgt er erſt noch ein Stuͤck vom Felſen herunter, um zu wiſſen, ob auf Granit oder Porphyr unſre zaͤrtliche Scene des Wieder- findens vor ſich gehen ſoll. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <sp who="#PER"> <lg type="poem"> <pb facs="#f0466" n="457"/> <fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Daͤumchen</hi>.</fw><lb/> <lg n="3"> <l>Da unten iſt der Staͤdte Zahl,</l><lb/> <l>Da wohnen Noth und Leiden,</l><lb/> <l>Die Armuth klagt im ſtillen Thal,</l><lb/> <l>Sich wollen Ehleut ſcheiden,</l> </lg><lb/> <lg n="4"> <l>Da wandert fort, eilt weg ſo ſchnell</l><lb/> <l>Der muntre luſtge Junggeſell.</l> </lg><lb/> <lg n="5"> <l>Und will die Lieb' ihn liſtig fangen,</l><lb/> <l>Lockt ihn die Sehnſucht und Genuß,</l><lb/> <l>Er kuͤßt die Lippen und die Wangen,</l><lb/> <l>Vermeidt des Eheſtands Verdruß,</l> </lg><lb/> <lg n="6"> <l>Spannt man die Heiraths-Netze aus</l><lb/> <l>Gleich dreht der Knabe ſich zur Thuͤr hinaus.</l> </lg> </lg><lb/> <p>Was da unten friedlich, niedlich, einſam und<lb/> ruͤhrend die Huͤtten liegen und das Gaͤrtchen dane-<lb/> ben. Schoͤne romantiſche Natur iſt doch etwas<lb/> Trefliches, und darein die Haͤuſer, der Rauch von<lb/> den Schornſteinen, das iſt ſo anlockend, weckt ſehn-<lb/> ſuͤchtige Gedanken, daß man dort ſeyn moͤchte, ſich<lb/> einwohnen, der Natur leben. — Aber ſeh ich recht?<lb/> Kriecht da nicht unten am Felſen mein Freund Al-<lb/> fred umher und botaniſirt? — Richtig! das iſt<lb/> ſeine philoſophiſche Miene, ſeine nachdenkliche Stel-<lb/> lung, ſein Kopfſchuͤtteln uͤber das Univerſum. —<lb/> Alfred! Komm zu mir herauf, theurer Geliebter,<lb/> laß da unten die Mooſe und Schwaͤmme in ihrer<lb/> Dunkelheit und falle an ein Menſchenherz, das<lb/> Dir entgegen zappelt! — Teufelskerl von einem<lb/> Freund; da ſchlaͤgt er erſt noch ein Stuͤck vom<lb/> Felſen herunter, um zu wiſſen, ob auf Granit<lb/> oder Porphyr unſre zaͤrtliche Scene des Wieder-<lb/> findens vor ſich gehen ſoll.</p><lb/> </sp> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [457/0466]
Daͤumchen.
Da unten iſt der Staͤdte Zahl,
Da wohnen Noth und Leiden,
Die Armuth klagt im ſtillen Thal,
Sich wollen Ehleut ſcheiden,
Da wandert fort, eilt weg ſo ſchnell
Der muntre luſtge Junggeſell.
Und will die Lieb' ihn liſtig fangen,
Lockt ihn die Sehnſucht und Genuß,
Er kuͤßt die Lippen und die Wangen,
Vermeidt des Eheſtands Verdruß,
Spannt man die Heiraths-Netze aus
Gleich dreht der Knabe ſich zur Thuͤr hinaus.
Was da unten friedlich, niedlich, einſam und
ruͤhrend die Huͤtten liegen und das Gaͤrtchen dane-
ben. Schoͤne romantiſche Natur iſt doch etwas
Trefliches, und darein die Haͤuſer, der Rauch von
den Schornſteinen, das iſt ſo anlockend, weckt ſehn-
ſuͤchtige Gedanken, daß man dort ſeyn moͤchte, ſich
einwohnen, der Natur leben. — Aber ſeh ich recht?
Kriecht da nicht unten am Felſen mein Freund Al-
fred umher und botaniſirt? — Richtig! das iſt
ſeine philoſophiſche Miene, ſeine nachdenkliche Stel-
lung, ſein Kopfſchuͤtteln uͤber das Univerſum. —
Alfred! Komm zu mir herauf, theurer Geliebter,
laß da unten die Mooſe und Schwaͤmme in ihrer
Dunkelheit und falle an ein Menſchenherz, das
Dir entgegen zappelt! — Teufelskerl von einem
Freund; da ſchlaͤgt er erſt noch ein Stuͤck vom
Felſen herunter, um zu wiſſen, ob auf Granit
oder Porphyr unſre zaͤrtliche Scene des Wieder-
findens vor ſich gehen ſoll.
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |