Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 3. Berlin, 1816.Zweite Abtheilung. Nur vergesse man nicht, fiel Manfred ein, daß diejenigen, die damals Musik trieben, meist wirklich ächten Beruf dazu und wahren Genuß davon hatten, statt daß es in unsern Tagen leere Mode und Kränklichkeit, großentheils wahrer Zeitverderb geworden ist, und daß durch nichts die Musik so ausgeartet ist, als durch diese zu große Verbreitung. Alle können spielen und singen, und keiner versteht es; alle sind Kenner, und alle wiederholen nur die Phrasen, die die Mode eben eingeführt hat. Wir haben, sagte Friedrich, sonderbare Er- fahrungen über die Natur der Musik gemacht. Diese schwächliche allgemeine Liebhaberei hat allerdings geschadet, und die gründliche Instru- mentalmusik, die Spieler der Bachischen Werke, so wie der Sinn für diese ächt deutsche Erfin- dung, werden immer seltner. Dies wäre aber nur etwas Unschuldiges, ein Schicksal, das diese Kunst mit allen übrigen Künsten gemein hat. Aber unsere Vorfahren, die sich an den kleinen nüchternen Liedern ergötzten, oder dem tiefsinni- gen Componisten durch das Gedankensystem sei- ner Töne folgten, hätten sich wohl nicht träu- men lassen, daß in dieser so hoch gepriesenen, ja heilig genannten Kunst, sich ein Element der verderblichsten Weichlichkeit entwickeln möchte, das schlimmer als jede andre Schwelgerei die Seele erniedrigen und den Menschen aushöhlen kann. Es ist nicht zuviel gesagt, wenn einer Zweite Abtheilung. Nur vergeſſe man nicht, fiel Manfred ein, daß diejenigen, die damals Muſik trieben, meiſt wirklich aͤchten Beruf dazu und wahren Genuß davon hatten, ſtatt daß es in unſern Tagen leere Mode und Kraͤnklichkeit, großentheils wahrer Zeitverderb geworden iſt, und daß durch nichts die Muſik ſo ausgeartet iſt, als durch dieſe zu große Verbreitung. Alle koͤnnen ſpielen und ſingen, und keiner verſteht es; alle ſind Kenner, und alle wiederholen nur die Phraſen, die die Mode eben eingefuͤhrt hat. Wir haben, ſagte Friedrich, ſonderbare Er- fahrungen uͤber die Natur der Muſik gemacht. Dieſe ſchwaͤchliche allgemeine Liebhaberei hat allerdings geſchadet, und die gruͤndliche Inſtru- mentalmuſik, die Spieler der Bachiſchen Werke, ſo wie der Sinn fuͤr dieſe aͤcht deutſche Erfin- dung, werden immer ſeltner. Dies waͤre aber nur etwas Unſchuldiges, ein Schickſal, das dieſe Kunſt mit allen uͤbrigen Kuͤnſten gemein hat. Aber unſere Vorfahren, die ſich an den kleinen nuͤchternen Liedern ergoͤtzten, oder dem tiefſinni- gen Componiſten durch das Gedankenſyſtem ſei- ner Toͤne folgten, haͤtten ſich wohl nicht traͤu- men laſſen, daß in dieſer ſo hoch geprieſenen, ja heilig genannten Kunſt, ſich ein Element der verderblichſten Weichlichkeit entwickeln moͤchte, das ſchlimmer als jede andre Schwelgerei die Seele erniedrigen und den Menſchen aushoͤhlen kann. Es iſt nicht zuviel geſagt, wenn einer <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <sp who="#VAL"> <pb facs="#f0238" n="228"/> <fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Zweite Abtheilung</hi>.</fw><lb/> <p>Nur vergeſſe man nicht, fiel Manfred ein,<lb/> daß diejenigen, die damals Muſik trieben, meiſt<lb/> wirklich aͤchten Beruf dazu und wahren Genuß<lb/> davon hatten, ſtatt daß es in unſern Tagen leere<lb/> Mode und Kraͤnklichkeit, großentheils wahrer<lb/> Zeitverderb geworden iſt, und daß durch nichts<lb/> die Muſik ſo ausgeartet iſt, als durch dieſe zu<lb/> große Verbreitung. Alle koͤnnen ſpielen und<lb/> ſingen, und keiner verſteht es; alle ſind Kenner,<lb/> und alle wiederholen nur die Phraſen, die die<lb/> Mode eben eingefuͤhrt hat.</p><lb/> <p>Wir haben, ſagte Friedrich, ſonderbare Er-<lb/> fahrungen uͤber die Natur der Muſik gemacht.<lb/> Dieſe ſchwaͤchliche allgemeine Liebhaberei hat<lb/> allerdings geſchadet, und die gruͤndliche Inſtru-<lb/> mentalmuſik, die Spieler der Bachiſchen Werke,<lb/> ſo wie der Sinn fuͤr dieſe aͤcht deutſche Erfin-<lb/> dung, werden immer ſeltner. Dies waͤre aber<lb/> nur etwas Unſchuldiges, ein Schickſal, das dieſe<lb/> Kunſt mit allen uͤbrigen Kuͤnſten gemein hat.<lb/> Aber unſere Vorfahren, die ſich an den kleinen<lb/> nuͤchternen Liedern ergoͤtzten, oder dem tiefſinni-<lb/> gen Componiſten durch das Gedankenſyſtem ſei-<lb/> ner Toͤne folgten, haͤtten ſich wohl nicht traͤu-<lb/> men laſſen, daß in dieſer ſo hoch geprieſenen, ja<lb/> heilig genannten Kunſt, ſich ein Element der<lb/> verderblichſten Weichlichkeit entwickeln moͤchte,<lb/> das ſchlimmer als jede andre Schwelgerei die<lb/> Seele erniedrigen und den Menſchen aushoͤhlen<lb/> kann. Es iſt nicht zuviel geſagt, wenn einer<lb/></p> </sp> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [228/0238]
Zweite Abtheilung.
Nur vergeſſe man nicht, fiel Manfred ein,
daß diejenigen, die damals Muſik trieben, meiſt
wirklich aͤchten Beruf dazu und wahren Genuß
davon hatten, ſtatt daß es in unſern Tagen leere
Mode und Kraͤnklichkeit, großentheils wahrer
Zeitverderb geworden iſt, und daß durch nichts
die Muſik ſo ausgeartet iſt, als durch dieſe zu
große Verbreitung. Alle koͤnnen ſpielen und
ſingen, und keiner verſteht es; alle ſind Kenner,
und alle wiederholen nur die Phraſen, die die
Mode eben eingefuͤhrt hat.
Wir haben, ſagte Friedrich, ſonderbare Er-
fahrungen uͤber die Natur der Muſik gemacht.
Dieſe ſchwaͤchliche allgemeine Liebhaberei hat
allerdings geſchadet, und die gruͤndliche Inſtru-
mentalmuſik, die Spieler der Bachiſchen Werke,
ſo wie der Sinn fuͤr dieſe aͤcht deutſche Erfin-
dung, werden immer ſeltner. Dies waͤre aber
nur etwas Unſchuldiges, ein Schickſal, das dieſe
Kunſt mit allen uͤbrigen Kuͤnſten gemein hat.
Aber unſere Vorfahren, die ſich an den kleinen
nuͤchternen Liedern ergoͤtzten, oder dem tiefſinni-
gen Componiſten durch das Gedankenſyſtem ſei-
ner Toͤne folgten, haͤtten ſich wohl nicht traͤu-
men laſſen, daß in dieſer ſo hoch geprieſenen, ja
heilig genannten Kunſt, ſich ein Element der
verderblichſten Weichlichkeit entwickeln moͤchte,
das ſchlimmer als jede andre Schwelgerei die
Seele erniedrigen und den Menſchen aushoͤhlen
kann. Es iſt nicht zuviel geſagt, wenn einer
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