Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tieck, Ludwig: Des Lebens Überfluß. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 3. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–86. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

Bild:
<< vorherige Seite

telte lächelnd mit dem Kopfe und blieb stumm. Unten wurde Alles ganz still; der Alte hatte sich in sein Zimmer zurückgezogen.

Heinrich setzte sich zu Clara hin und sagte mit etwas unterdrückter Stimme: Es ist in der That verdrießlich, daß nur sehr wenige Menschen so viel Phantasie wie der große Don Quixote besitzen. Als man diesem sein Bücherzimmer vermauert hatte und ihm erklärte, ein Zauberer habe ihm nicht nur seine Bibliothek, sondern auch die ganze Stube zugleich hinweggeführt, so begriff er sogleich, ohne nur zu zweifeln, die ganze Sache. Er war nicht so prosaisch, sich zu erkundigen, wo denn ein so ganz abstractes Ding, wie der Raum, hingekommen sei. Was ist Raum? ein Unbedingtes, ein Nichts, eine Form der Anschauung. Was ist eine Treppe? ein Bedingtes, aber nichts weniger als ein selbständiges Wesen, eine Vermittlung, eine Veranlassung, von unten nach oben zu gelangen, und wie relativ sind selbst diese Begriffe von Oben und Unten. Der Alte wird es sich nimmermehr ausreden lassen, daß dort, wo jetzt nur eine Lücke ist, ehemals eine Treppe gestanden habe; er ist gewiß zu empirisch und rationalistisch, um einzusehen, daß der wahre Mensch und die tiefere Intuition der gewöhnlichen Uebergänge jener armseligen, prosaischen Approximation einer so gemeinen Stufenleiter der Begriffe nicht bedarf. Wie soll ich ihm das Alles von meinem höheren Standpunkte auf seinem niedern da unten deutlich

telte lächelnd mit dem Kopfe und blieb stumm. Unten wurde Alles ganz still; der Alte hatte sich in sein Zimmer zurückgezogen.

Heinrich setzte sich zu Clara hin und sagte mit etwas unterdrückter Stimme: Es ist in der That verdrießlich, daß nur sehr wenige Menschen so viel Phantasie wie der große Don Quixote besitzen. Als man diesem sein Bücherzimmer vermauert hatte und ihm erklärte, ein Zauberer habe ihm nicht nur seine Bibliothek, sondern auch die ganze Stube zugleich hinweggeführt, so begriff er sogleich, ohne nur zu zweifeln, die ganze Sache. Er war nicht so prosaisch, sich zu erkundigen, wo denn ein so ganz abstractes Ding, wie der Raum, hingekommen sei. Was ist Raum? ein Unbedingtes, ein Nichts, eine Form der Anschauung. Was ist eine Treppe? ein Bedingtes, aber nichts weniger als ein selbständiges Wesen, eine Vermittlung, eine Veranlassung, von unten nach oben zu gelangen, und wie relativ sind selbst diese Begriffe von Oben und Unten. Der Alte wird es sich nimmermehr ausreden lassen, daß dort, wo jetzt nur eine Lücke ist, ehemals eine Treppe gestanden habe; er ist gewiß zu empirisch und rationalistisch, um einzusehen, daß der wahre Mensch und die tiefere Intuition der gewöhnlichen Uebergänge jener armseligen, prosaischen Approximation einer so gemeinen Stufenleiter der Begriffe nicht bedarf. Wie soll ich ihm das Alles von meinem höheren Standpunkte auf seinem niedern da unten deutlich

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="4">
        <p><pb facs="#f0069"/>
telte lächelnd mit dem Kopfe und blieb stumm.             Unten wurde Alles ganz still; der Alte hatte sich in sein Zimmer zurückgezogen.</p><lb/>
        <p>Heinrich setzte sich zu Clara hin und sagte mit etwas unterdrückter Stimme: Es ist in             der That verdrießlich, daß nur sehr wenige Menschen so viel Phantasie wie der große Don             Quixote besitzen. Als man diesem sein Bücherzimmer vermauert hatte und ihm erklärte, ein             Zauberer habe ihm nicht nur seine Bibliothek, sondern auch die ganze Stube zugleich             hinweggeführt, so begriff er sogleich, ohne nur zu zweifeln, die ganze Sache. Er war             nicht so prosaisch, sich zu erkundigen, wo denn ein so ganz abstractes Ding, wie der             Raum, hingekommen sei. Was ist Raum? ein Unbedingtes, ein Nichts, eine Form der             Anschauung. Was ist eine Treppe? ein Bedingtes, aber nichts weniger als ein             selbständiges Wesen, eine Vermittlung, eine Veranlassung, von unten nach oben zu             gelangen, und wie relativ sind selbst diese Begriffe von Oben und Unten. Der Alte wird             es sich nimmermehr ausreden lassen, daß dort, wo jetzt nur eine Lücke ist, ehemals eine             Treppe gestanden habe; er ist gewiß zu empirisch und rationalistisch, um einzusehen, daß             der wahre Mensch und die tiefere Intuition der gewöhnlichen Uebergänge jener armseligen,             prosaischen Approximation einer so gemeinen Stufenleiter der Begriffe nicht bedarf. Wie             soll ich ihm das Alles von meinem höheren Standpunkte auf seinem niedern da unten             deutlich<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0069] telte lächelnd mit dem Kopfe und blieb stumm. Unten wurde Alles ganz still; der Alte hatte sich in sein Zimmer zurückgezogen. Heinrich setzte sich zu Clara hin und sagte mit etwas unterdrückter Stimme: Es ist in der That verdrießlich, daß nur sehr wenige Menschen so viel Phantasie wie der große Don Quixote besitzen. Als man diesem sein Bücherzimmer vermauert hatte und ihm erklärte, ein Zauberer habe ihm nicht nur seine Bibliothek, sondern auch die ganze Stube zugleich hinweggeführt, so begriff er sogleich, ohne nur zu zweifeln, die ganze Sache. Er war nicht so prosaisch, sich zu erkundigen, wo denn ein so ganz abstractes Ding, wie der Raum, hingekommen sei. Was ist Raum? ein Unbedingtes, ein Nichts, eine Form der Anschauung. Was ist eine Treppe? ein Bedingtes, aber nichts weniger als ein selbständiges Wesen, eine Vermittlung, eine Veranlassung, von unten nach oben zu gelangen, und wie relativ sind selbst diese Begriffe von Oben und Unten. Der Alte wird es sich nimmermehr ausreden lassen, daß dort, wo jetzt nur eine Lücke ist, ehemals eine Treppe gestanden habe; er ist gewiß zu empirisch und rationalistisch, um einzusehen, daß der wahre Mensch und die tiefere Intuition der gewöhnlichen Uebergänge jener armseligen, prosaischen Approximation einer so gemeinen Stufenleiter der Begriffe nicht bedarf. Wie soll ich ihm das Alles von meinem höheren Standpunkte auf seinem niedern da unten deutlich

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-16T12:30:27Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-16T12:30:27Z)

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (&#xa75b;): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_ueberfluss_1910
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_ueberfluss_1910/69
Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: Des Lebens Überfluß. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 3. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–86. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_ueberfluss_1910/69>, abgerufen am 27.11.2024.