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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775.

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Der 4te Februar.
Der Schlaf ist mehr das Loos der Kinder:
Sie sind zur Tugend noch zu schwach.
Jhr aber, Greise! schlafet minder,
Denn euch hält Gottes Stimme wach.


Der feste und sorgenlose Schlaf unsrer Kindheit wird uns von
Jahr zu Jahr beneidenswürdiger. Jm Bette sich umher
wälzen und nicht schlafen können, ist so quälend, als schlaftrun-
ken seyn und wachen müssen. Da es aber eine Einrichtung unsrer
Natur ist, (von der es wenig Ausnahmen giebt) daß sich der
Schlaf bei zunehmendem Alter verliert, so schliesse ich: daß der
kurze Schlaf im Alter
sehr weise Absichten habe, und die-
sen will ich jetzt nachforschen, so weit ein sterbliches Auge den un-
ermeßlichen Zwecken Gottes nachspüren kan.

Neugeborne Kinder schlafen viel, weil sich ihr Körper ent-
wickeln muß, damit ihr Geist durch ihn empfinden und denken
könne. So wie dis nach und nach geschieht, vermindert sich
auch der Schlaf. Endlich im Alter werden alle Theile des Kör-
pers spröder. Nun können wir nicht lange mehr auf einer und
verselben Stelle liegen, ohne das Reiben und Drücken vieler in-
nern Theile zu empfinden. Uns umzudrehen, wird uns auch,
wegen des unbeholfnen Körpers, sehr beschwerlich und -- wir
erwachen. Einen Vorschmack von solchen unruhigen Nächten
haben wir schon in jüngern Jahren, wenn wir uns mit Speise
oder Trank überladen, und unsern Leib dadurch eine zeitlang in ei-
nen Stand hohen Alters versetzen.

Hauptsächlich muß hiebei unsre Seele in Anschlag kommen.
Hier sollen eigentlich die göttliche Absichten ausgeführt werden.
Bejahrte zählen alle Glockenschläge, wann ihre Enckel im tiefsten
Schlafe liegen. Es ist, als wenn für sie nach Mitternacht der

Schlaf
E 5


Der 4te Februar.
Der Schlaf iſt mehr das Loos der Kinder:
Sie ſind zur Tugend noch zu ſchwach.
Jhr aber, Greiſe! ſchlafet minder,
Denn euch haͤlt Gottes Stimme wach.


Der feſte und ſorgenloſe Schlaf unſrer Kindheit wird uns von
Jahr zu Jahr beneidenswuͤrdiger. Jm Bette ſich umher
waͤlzen und nicht ſchlafen koͤnnen, iſt ſo quaͤlend, als ſchlaftrun-
ken ſeyn und wachen muͤſſen. Da es aber eine Einrichtung unſrer
Natur iſt, (von der es wenig Ausnahmen giebt) daß ſich der
Schlaf bei zunehmendem Alter verliert, ſo ſchlieſſe ich: daß der
kurze Schlaf im Alter
ſehr weiſe Abſichten habe, und die-
ſen will ich jetzt nachforſchen, ſo weit ein ſterbliches Auge den un-
ermeßlichen Zwecken Gottes nachſpuͤren kan.

Neugeborne Kinder ſchlafen viel, weil ſich ihr Koͤrper ent-
wickeln muß, damit ihr Geiſt durch ihn empfinden und denken
koͤnne. So wie dis nach und nach geſchieht, vermindert ſich
auch der Schlaf. Endlich im Alter werden alle Theile des Koͤr-
pers ſproͤder. Nun koͤnnen wir nicht lange mehr auf einer und
verſelben Stelle liegen, ohne das Reiben und Druͤcken vieler in-
nern Theile zu empfinden. Uns umzudrehen, wird uns auch,
wegen des unbeholfnen Koͤrpers, ſehr beſchwerlich und — wir
erwachen. Einen Vorſchmack von ſolchen unruhigen Naͤchten
haben wir ſchon in juͤngern Jahren, wenn wir uns mit Speiſe
oder Trank uͤberladen, und unſern Leib dadurch eine zeitlang in ei-
nen Stand hohen Alters verſetzen.

Hauptſaͤchlich muß hiebei unſre Seele in Anſchlag kommen.
Hier ſollen eigentlich die goͤttliche Abſichten ausgefuͤhrt werden.
Bejahrte zaͤhlen alle Glockenſchlaͤge, wann ihre Enckel im tiefſten
Schlafe liegen. Es iſt, als wenn fuͤr ſie nach Mitternacht der

Schlaf
E 5
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[73[103]/0110] Der 4te Februar. Der Schlaf iſt mehr das Loos der Kinder: Sie ſind zur Tugend noch zu ſchwach. Jhr aber, Greiſe! ſchlafet minder, Denn euch haͤlt Gottes Stimme wach. Der feſte und ſorgenloſe Schlaf unſrer Kindheit wird uns von Jahr zu Jahr beneidenswuͤrdiger. Jm Bette ſich umher waͤlzen und nicht ſchlafen koͤnnen, iſt ſo quaͤlend, als ſchlaftrun- ken ſeyn und wachen muͤſſen. Da es aber eine Einrichtung unſrer Natur iſt, (von der es wenig Ausnahmen giebt) daß ſich der Schlaf bei zunehmendem Alter verliert, ſo ſchlieſſe ich: daß der kurze Schlaf im Alter ſehr weiſe Abſichten habe, und die- ſen will ich jetzt nachforſchen, ſo weit ein ſterbliches Auge den un- ermeßlichen Zwecken Gottes nachſpuͤren kan. Neugeborne Kinder ſchlafen viel, weil ſich ihr Koͤrper ent- wickeln muß, damit ihr Geiſt durch ihn empfinden und denken koͤnne. So wie dis nach und nach geſchieht, vermindert ſich auch der Schlaf. Endlich im Alter werden alle Theile des Koͤr- pers ſproͤder. Nun koͤnnen wir nicht lange mehr auf einer und verſelben Stelle liegen, ohne das Reiben und Druͤcken vieler in- nern Theile zu empfinden. Uns umzudrehen, wird uns auch, wegen des unbeholfnen Koͤrpers, ſehr beſchwerlich und — wir erwachen. Einen Vorſchmack von ſolchen unruhigen Naͤchten haben wir ſchon in juͤngern Jahren, wenn wir uns mit Speiſe oder Trank uͤberladen, und unſern Leib dadurch eine zeitlang in ei- nen Stand hohen Alters verſetzen. Hauptſaͤchlich muß hiebei unſre Seele in Anſchlag kommen. Hier ſollen eigentlich die goͤttliche Abſichten ausgefuͤhrt werden. Bejahrte zaͤhlen alle Glockenſchlaͤge, wann ihre Enckel im tiefſten Schlafe liegen. Es iſt, als wenn fuͤr ſie nach Mitternacht der Schlaf E 5

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




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Zitationshilfe: Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 73[103]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/110>, abgerufen am 21.11.2024.