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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775.

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Der 10te Februar.
Ein blinder Wunsch, ein dreistes Hoffen,
Ist nur der Thorheit Gaukelspiel;
Des Weisen Wunsch ist eingetroffen;
Denn dieser wünschet nie zu viel.


Entweder gedenkt man sich bei seinen Wünschen nichts, und
dann sind sie ein kindischer leerer Schall; oder sie sind eine
Art von Bitte an die Vorsicht, um dieses oder jenes Gut: und
alsdann gehören sie unter die Gerichtsbarkeit der Moral. Denn
es kan doch nicht gleichgültig seyn, was und wie man sich etwas
von Gott erbittet? Was wir als Christen für unsere Seele er-
bitten dürfen und sollen, das hat die Religion genau bestimmt;
aber im gemeinen Leben dünken wir uns Freiheit zu haben, alles
zu wünschen, was uns einfällt. Ist das aber nicht eben so
viel, als hätten wir Freiheit, Thoren zu seyn? Hat uns die
Vorsicht ein Gut versagt, so muß sie dazu ihre weise Ursachen
gehabt haben: sehr schwer wird es daher immer seyn, die
Thorheit der Wünsche zu entschuldigen. Dis wird noch
einleuchtender, wenn man die Wünsche in Klassen theilt und
folgendes erwägt:

Man wünscht sich öfters Unmöglichkeiten. Gott soll nicht
gerecht seyn, und weder drohen noch strafen; man will rasen und
die Kräfte des Körpers sollen nicht verzehret werden! Man ver-
langt ungereimte Dinge: Freunde, ohne selbst freundschaftlich
zu seyn; Reichthum und doch auch sorgenfreies Leben; hohes
Alter und zugleich Jugendblüte! Ein andrer Schwarm wünscht
sich unnütze Kleinigkeiten, als: lange Titel ohne eigne Würde;
bei gesunden Füssen getragen und gefahren zu seyn; die Gnade
eines leichtsinnigen, lasterhaften Herrn; den jauchzenden Bei-

fall
F 3


Der 10te Februar.
Ein blinder Wunſch, ein dreiſtes Hoffen,
Iſt nur der Thorheit Gaukelſpiel;
Des Weiſen Wunſch iſt eingetroffen;
Denn dieſer wuͤnſchet nie zu viel.


Entweder gedenkt man ſich bei ſeinen Wuͤnſchen nichts, und
dann ſind ſie ein kindiſcher leerer Schall; oder ſie ſind eine
Art von Bitte an die Vorſicht, um dieſes oder jenes Gut: und
alsdann gehoͤren ſie unter die Gerichtsbarkeit der Moral. Denn
es kan doch nicht gleichguͤltig ſeyn, was und wie man ſich etwas
von Gott erbittet? Was wir als Chriſten fuͤr unſere Seele er-
bitten duͤrfen und ſollen, das hat die Religion genau beſtimmt;
aber im gemeinen Leben duͤnken wir uns Freiheit zu haben, alles
zu wuͤnſchen, was uns einfaͤllt. Iſt das aber nicht eben ſo
viel, als haͤtten wir Freiheit, Thoren zu ſeyn? Hat uns die
Vorſicht ein Gut verſagt, ſo muß ſie dazu ihre weiſe Urſachen
gehabt haben: ſehr ſchwer wird es daher immer ſeyn, die
Thorheit der Wuͤnſche zu entſchuldigen. Dis wird noch
einleuchtender, wenn man die Wuͤnſche in Klaſſen theilt und
folgendes erwaͤgt:

Man wuͤnſcht ſich oͤfters Unmoͤglichkeiten. Gott ſoll nicht
gerecht ſeyn, und weder drohen noch ſtrafen; man will raſen und
die Kraͤfte des Koͤrpers ſollen nicht verzehret werden! Man ver-
langt ungereimte Dinge: Freunde, ohne ſelbſt freundſchaftlich
zu ſeyn; Reichthum und doch auch ſorgenfreies Leben; hohes
Alter und zugleich Jugendbluͤte! Ein andrer Schwarm wuͤnſcht
ſich unnuͤtze Kleinigkeiten, als: lange Titel ohne eigne Wuͤrde;
bei geſunden Fuͤſſen getragen und gefahren zu ſeyn; die Gnade
eines leichtſinnigen, laſterhaften Herrn; den jauchzenden Bei-

fall
F 3
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[85[115]/0122] Der 10te Februar. Ein blinder Wunſch, ein dreiſtes Hoffen, Iſt nur der Thorheit Gaukelſpiel; Des Weiſen Wunſch iſt eingetroffen; Denn dieſer wuͤnſchet nie zu viel. Entweder gedenkt man ſich bei ſeinen Wuͤnſchen nichts, und dann ſind ſie ein kindiſcher leerer Schall; oder ſie ſind eine Art von Bitte an die Vorſicht, um dieſes oder jenes Gut: und alsdann gehoͤren ſie unter die Gerichtsbarkeit der Moral. Denn es kan doch nicht gleichguͤltig ſeyn, was und wie man ſich etwas von Gott erbittet? Was wir als Chriſten fuͤr unſere Seele er- bitten duͤrfen und ſollen, das hat die Religion genau beſtimmt; aber im gemeinen Leben duͤnken wir uns Freiheit zu haben, alles zu wuͤnſchen, was uns einfaͤllt. Iſt das aber nicht eben ſo viel, als haͤtten wir Freiheit, Thoren zu ſeyn? Hat uns die Vorſicht ein Gut verſagt, ſo muß ſie dazu ihre weiſe Urſachen gehabt haben: ſehr ſchwer wird es daher immer ſeyn, die Thorheit der Wuͤnſche zu entſchuldigen. Dis wird noch einleuchtender, wenn man die Wuͤnſche in Klaſſen theilt und folgendes erwaͤgt: Man wuͤnſcht ſich oͤfters Unmoͤglichkeiten. Gott ſoll nicht gerecht ſeyn, und weder drohen noch ſtrafen; man will raſen und die Kraͤfte des Koͤrpers ſollen nicht verzehret werden! Man ver- langt ungereimte Dinge: Freunde, ohne ſelbſt freundſchaftlich zu ſeyn; Reichthum und doch auch ſorgenfreies Leben; hohes Alter und zugleich Jugendbluͤte! Ein andrer Schwarm wuͤnſcht ſich unnuͤtze Kleinigkeiten, als: lange Titel ohne eigne Wuͤrde; bei geſunden Fuͤſſen getragen und gefahren zu ſeyn; die Gnade eines leichtſinnigen, laſterhaften Herrn; den jauchzenden Bei- fall F 3

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Zitationshilfe: Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 85[115]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/122>, abgerufen am 21.11.2024.