Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775.Der 16te Februar. des Bettelns: wie wehe würde es thun im Alter! und wer giebtden Abgelebten gerne viel? und mit wem vertragen sie sich wol lange? Selbst ihre geliebte und angebetete Kindeskinder werden nicht selten hart gegen sie, geschweige Fremde. Fleiß und Spar- samkeit müssen demnach das dürftige Alter voraus besorgen. Aber ohne Gesundheit sind auch reiche Alten sich zur Last: folglich muß man von Jugend auf mäßig leben, und weder durch Ausschwei- fungen, noch unnütze Nachtwachen, Affekten, und Arzeneien, seinen Körper entkräften. Ferner muß man sich gegen diese hülfs- bedürftige Zeit Freunde besorgen, denn man kan des Beistandes anderer Menschen alsdann gar nicht entbehren. Je mehr man in jüngern Jahren seinen Charakter bildet, und immer freundschaft- licher und gefälliger wird: desto erträglicher werden die Be- schwerden des höchsten Alters. Ein Greis muß seine Bedienten und Wärter so gar zu Freunden haben, sonst verstehen sie seine Winke nicht, und spotten seiner Foderungen. Noch eins! Die Ehre ist fast die einzige Kost der Erde, welche noch mit Appetit von Hochbejahrten genossen wird: aber wie viel Geschicklichkeit und Tugend muß nicht voran gegangen seyn, wenn sie dieses Lab- sals theilhaftig werden wollen! Jedoch alle jetzt erwehnte Eigen- schaften sind nichts ohne ein gutes Gewissen, beides gegen Gott und den Menschen. Dis muß durchaus da seyn, wenn Ureltern lächeln, und den Tod gelassen erwarten sollen. Und hat die Erde wol ein lächerlicheres, oder beweinenswertheres Geschöpf, als Greise, welche durchaus noch nicht in die Grube wollen, sondern mit dürren Händen sich an den Rand derselben anklammern? So viele Stimmen, und selbst die zitternde Stimme mei- Der
Der 16te Februar. des Bettelns: wie wehe wuͤrde es thun im Alter! und wer giebtden Abgelebten gerne viel? und mit wem vertragen ſie ſich wol lange? Selbſt ihre geliebte und angebetete Kindeskinder werden nicht ſelten hart gegen ſie, geſchweige Fremde. Fleiß und Spar- ſamkeit muͤſſen demnach das duͤrftige Alter voraus beſorgen. Aber ohne Geſundheit ſind auch reiche Alten ſich zur Laſt: folglich muß man von Jugend auf maͤßig leben, und weder durch Ausſchwei- fungen, noch unnuͤtze Nachtwachen, Affekten, und Arzeneien, ſeinen Koͤrper entkraͤften. Ferner muß man ſich gegen dieſe huͤlfs- beduͤrftige Zeit Freunde beſorgen, denn man kan des Beiſtandes anderer Menſchen alsdann gar nicht entbehren. Je mehr man in juͤngern Jahren ſeinen Charakter bildet, und immer freundſchaft- licher und gefaͤlliger wird: deſto ertraͤglicher werden die Be- ſchwerden des hoͤchſten Alters. Ein Greis muß ſeine Bedienten und Waͤrter ſo gar zu Freunden haben, ſonſt verſtehen ſie ſeine Winke nicht, und ſpotten ſeiner Foderungen. Noch eins! Die Ehre iſt faſt die einzige Koſt der Erde, welche noch mit Appetit von Hochbejahrten genoſſen wird: aber wie viel Geſchicklichkeit und Tugend muß nicht voran gegangen ſeyn, wenn ſie dieſes Lab- ſals theilhaftig werden wollen! Jedoch alle jetzt erwehnte Eigen- ſchaften ſind nichts ohne ein gutes Gewiſſen, beides gegen Gott und den Menſchen. Dis muß durchaus da ſeyn, wenn Ureltern laͤcheln, und den Tod gelaſſen erwarten ſollen. Und hat die Erde wol ein laͤcherlicheres, oder beweinenswertheres Geſchoͤpf, als Greiſe, welche durchaus noch nicht in die Grube wollen, ſondern mit duͤrren Haͤnden ſich an den Rand derſelben anklammern? So viele Stimmen, und ſelbſt die zitternde Stimme mei- Der
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Der 16te Februar.
des Bettelns: wie wehe wuͤrde es thun im Alter! und wer giebt
den Abgelebten gerne viel? und mit wem vertragen ſie ſich wol
lange? Selbſt ihre geliebte und angebetete Kindeskinder werden
nicht ſelten hart gegen ſie, geſchweige Fremde. Fleiß und Spar-
ſamkeit muͤſſen demnach das duͤrftige Alter voraus beſorgen. Aber
ohne Geſundheit ſind auch reiche Alten ſich zur Laſt: folglich muß
man von Jugend auf maͤßig leben, und weder durch Ausſchwei-
fungen, noch unnuͤtze Nachtwachen, Affekten, und Arzeneien,
ſeinen Koͤrper entkraͤften. Ferner muß man ſich gegen dieſe huͤlfs-
beduͤrftige Zeit Freunde beſorgen, denn man kan des Beiſtandes
anderer Menſchen alsdann gar nicht entbehren. Je mehr man in
juͤngern Jahren ſeinen Charakter bildet, und immer freundſchaft-
licher und gefaͤlliger wird: deſto ertraͤglicher werden die Be-
ſchwerden des hoͤchſten Alters. Ein Greis muß ſeine Bedienten
und Waͤrter ſo gar zu Freunden haben, ſonſt verſtehen ſie ſeine
Winke nicht, und ſpotten ſeiner Foderungen. Noch eins! Die
Ehre iſt faſt die einzige Koſt der Erde, welche noch mit Appetit
von Hochbejahrten genoſſen wird: aber wie viel Geſchicklichkeit
und Tugend muß nicht voran gegangen ſeyn, wenn ſie dieſes Lab-
ſals theilhaftig werden wollen! Jedoch alle jetzt erwehnte Eigen-
ſchaften ſind nichts ohne ein gutes Gewiſſen, beides gegen Gott
und den Menſchen. Dis muß durchaus da ſeyn, wenn Ureltern
laͤcheln, und den Tod gelaſſen erwarten ſollen. Und hat die Erde
wol ein laͤcherlicheres, oder beweinenswertheres Geſchoͤpf, als
Greiſe, welche durchaus noch nicht in die Grube wollen, ſondern
mit duͤrren Haͤnden ſich an den Rand derſelben anklammern?
So viele Stimmen, und ſelbſt die zitternde Stimme mei-
nes moͤglichen hohen Alters, rufen mich zur Froͤmmigkeit! Ach!
wenn ich mich ſelbſt noch liebe: ſo muß ich deine Gebote, Herr
Jeſu! immer liebenswuͤrdiger finden. Hier iſt mein Herz, nur
dir ſoll es gewidmet ſeyn. So werde ich nicht nur jetzt, ſondern
auch im ſchlafloſern Alter, mich angenehm mit dir auf meinem
Lager beſchaͤftigen koͤnnen.
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(2023-05-24T12:24:22Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, Linda Kirsten, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels
Weitere Informationen:Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
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