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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775.

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Der 17te Februar.
Umwölkt mit dicken Finsternissen,
Sich selbst ein Räzel, dünkt der Mensch
Sich das verborgenste zu wissen?


Das unmerkliche Einschlafen geschieht so schnell, daß
man die Gränzen zwischen Wachen und Schlaf unmöglich
bestimmen kan; denn ihre Farben fliessen, so zu sagen, in einan-
der. Diese Beobachtung soll mich jetzt erbauen. Liebreicher
Gott! schenk du mir dazu Gnade und Wachsamkeit!

Mit welcher unverschämten Stirne verlangt denn der Zweif-
ler deutliche Begriffe von den Geheimnissen der Religion? O!
Thor, es giebt nur sehr wenige Dinge, welche wir vollkommen
einsehen und beweisen können! Worin besteht der Hunger, der
dir das Wasser in den Mund treibt? Kanst du Blut, Haare,
Fleisch, Knochen und alles das aus Speise und Trank machen,
was deine Verdauungskraft, ohne dein Vorwissen und Zuthun,
macht? Erklär uns die Entstehung und Würkung deiner Ge-
danken: und du wilst Gottes Gedanken erkläret wissen? Dein
täglicher Schlaf ist und bleibt dir ein Geheimniß: und das Wesen
der heiligen Dreifaltigkeit soll es dir nicht seyn? Nach deiner Art
zu schliessen, müßtest du nicht ehe einschlafen, als bis du den Ur-
sprung, Fortgang und Absichten des Schlafs ohne Widerspruch
erklären köntest.

Indem wir einschlafen, hören wir auf, unsrer mächtig und
bewußt zu seyn. Wir begeben uns also unsrer Herrschaft, und
überlassen uns Gott. Welch eine wichtige Veränderung! Sie
ist beträchtlicher, als wenn ein Monarch seine Krone niederlegt!
Und wie verwegen handelt nicht der Sünder dabei, der sich den

Händen
G 2


Der 17te Februar.
Umwoͤlkt mit dicken Finſterniſſen,
Sich ſelbſt ein Raͤzel, duͤnkt der Menſch
Sich das verborgenſte zu wiſſen?


Das unmerkliche Einſchlafen geſchieht ſo ſchnell, daß
man die Graͤnzen zwiſchen Wachen und Schlaf unmoͤglich
beſtimmen kan; denn ihre Farben flieſſen, ſo zu ſagen, in einan-
der. Dieſe Beobachtung ſoll mich jetzt erbauen. Liebreicher
Gott! ſchenk du mir dazu Gnade und Wachſamkeit!

Mit welcher unverſchaͤmten Stirne verlangt denn der Zweif-
ler deutliche Begriffe von den Geheimniſſen der Religion? O!
Thor, es giebt nur ſehr wenige Dinge, welche wir vollkommen
einſehen und beweiſen koͤnnen! Worin beſteht der Hunger, der
dir das Waſſer in den Mund treibt? Kanſt du Blut, Haare,
Fleiſch, Knochen und alles das aus Speiſe und Trank machen,
was deine Verdauungskraft, ohne dein Vorwiſſen und Zuthun,
macht? Erklaͤr uns die Entſtehung und Wuͤrkung deiner Ge-
danken: und du wilſt Gottes Gedanken erklaͤret wiſſen? Dein
taͤglicher Schlaf iſt und bleibt dir ein Geheimniß: und das Weſen
der heiligen Dreifaltigkeit ſoll es dir nicht ſeyn? Nach deiner Art
zu ſchlieſſen, muͤßteſt du nicht ehe einſchlafen, als bis du den Ur-
ſprung, Fortgang und Abſichten des Schlafs ohne Widerſpruch
erklaͤren koͤnteſt.

Indem wir einſchlafen, hoͤren wir auf, unſrer maͤchtig und
bewußt zu ſeyn. Wir begeben uns alſo unſrer Herrſchaft, und
uͤberlaſſen uns Gott. Welch eine wichtige Veraͤnderung! Sie
iſt betraͤchtlicher, als wenn ein Monarch ſeine Krone niederlegt!
Und wie verwegen handelt nicht der Suͤnder dabei, der ſich den

Haͤnden
G 2
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[99[129]/0136] Der 17te Februar. Umwoͤlkt mit dicken Finſterniſſen, Sich ſelbſt ein Raͤzel, duͤnkt der Menſch Sich das verborgenſte zu wiſſen? Das unmerkliche Einſchlafen geſchieht ſo ſchnell, daß man die Graͤnzen zwiſchen Wachen und Schlaf unmoͤglich beſtimmen kan; denn ihre Farben flieſſen, ſo zu ſagen, in einan- der. Dieſe Beobachtung ſoll mich jetzt erbauen. Liebreicher Gott! ſchenk du mir dazu Gnade und Wachſamkeit! Mit welcher unverſchaͤmten Stirne verlangt denn der Zweif- ler deutliche Begriffe von den Geheimniſſen der Religion? O! Thor, es giebt nur ſehr wenige Dinge, welche wir vollkommen einſehen und beweiſen koͤnnen! Worin beſteht der Hunger, der dir das Waſſer in den Mund treibt? Kanſt du Blut, Haare, Fleiſch, Knochen und alles das aus Speiſe und Trank machen, was deine Verdauungskraft, ohne dein Vorwiſſen und Zuthun, macht? Erklaͤr uns die Entſtehung und Wuͤrkung deiner Ge- danken: und du wilſt Gottes Gedanken erklaͤret wiſſen? Dein taͤglicher Schlaf iſt und bleibt dir ein Geheimniß: und das Weſen der heiligen Dreifaltigkeit ſoll es dir nicht ſeyn? Nach deiner Art zu ſchlieſſen, muͤßteſt du nicht ehe einſchlafen, als bis du den Ur- ſprung, Fortgang und Abſichten des Schlafs ohne Widerſpruch erklaͤren koͤnteſt. Indem wir einſchlafen, hoͤren wir auf, unſrer maͤchtig und bewußt zu ſeyn. Wir begeben uns alſo unſrer Herrſchaft, und uͤberlaſſen uns Gott. Welch eine wichtige Veraͤnderung! Sie iſt betraͤchtlicher, als wenn ein Monarch ſeine Krone niederlegt! Und wie verwegen handelt nicht der Suͤnder dabei, der ſich den Haͤnden G 2

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Zitationshilfe: Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 99[129]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/136>, abgerufen am 21.11.2024.