Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775.

Bild:
<< vorherige Seite


Der 9te März.
Muß man hier doch wie im Kerker leben,
Wo nur Sorge, Frucht und Schrecken schweben:
Was wir hie kennen,
Ist nur Müh und Herzeleid zu nennen.


Wann ich am Abend aus dem Gewirre der Welt zurückkomme,
und mich mit dir, mein himlischer Vater! in der Einsam-
keit unterhalte: so ist es, als ob ich aus einem Hospitale käme,
und mich von dem betrübten Anblicke wieder zu erholen suchte.
Die arme Welt! Von aussen scheinet sie ein Pallast: aber kaum
mit man über die Schwelle, so wird man des Jammers gewahr.

Ist nicht die Erde ein Spital? Fast jede Familie hat
ihre Kranken, ihre Bettler, ihre Halbverrückten, und andre le-
bendige Schandsäulen. Wie viele stossen mir nicht allenthalben
auf, welche Hülfe begehren! Und ich Armer bin ihrer die meiste
Zeit selbst bedürftig! Wolte ich jetzt die stille Gassen durchgehn:
was würde ich hören? Hier einen Betenden und Singenden, der,
wenn er es redlich meint, über seine Untugenden seufzet, und sich
göttliche Hülfe für die Nacht erflehet. Da schreien zarte Kin-
der, und ihre Eltern und Wärter mögten für Ungeduld und
Wehmut vergehen. Dort ächzen schlaflose Kranken; und nicht
weit von ihnen jauchzen schlaflose Thoren, welche Ursache hätten
zu weinen. Der Geizige (eine andre Gattung von Verrückten)
zählet bei blassem Lampenschein ängstlich Gelder, die ihm oder
vielmehr seinem betrognen Nächsten gehören. Gelehrte verkür-
zen sich das Leben, und viele unter ihnen, (eine neue Art von

Thoren!


Der 9te Maͤrz.
Muß man hier doch wie im Kerker leben,
Wo nur Sorge, Frucht und Schrecken ſchweben:
Was wir hie kennen,
Iſt nur Muͤh und Herzeleid zu nennen.


Wann ich am Abend aus dem Gewirre der Welt zuruͤckkomme,
und mich mit dir, mein himliſcher Vater! in der Einſam-
keit unterhalte: ſo iſt es, als ob ich aus einem Hoſpitale kaͤme,
und mich von dem betruͤbten Anblicke wieder zu erholen ſuchte.
Die arme Welt! Von auſſen ſcheinet ſie ein Pallaſt: aber kaum
mit man uͤber die Schwelle, ſo wird man des Jammers gewahr.

Iſt nicht die Erde ein Spital? Faſt jede Familie hat
ihre Kranken, ihre Bettler, ihre Halbverruͤckten, und andre le-
bendige Schandſaͤulen. Wie viele ſtoſſen mir nicht allenthalben
auf, welche Huͤlfe begehren! Und ich Armer bin ihrer die meiſte
Zeit ſelbſt beduͤrftig! Wolte ich jetzt die ſtille Gaſſen durchgehn:
was wuͤrde ich hoͤren? Hier einen Betenden und Singenden, der,
wenn er es redlich meint, uͤber ſeine Untugenden ſeufzet, und ſich
goͤttliche Huͤlfe fuͤr die Nacht erflehet. Da ſchreien zarte Kin-
der, und ihre Eltern und Waͤrter moͤgten fuͤr Ungeduld und
Wehmut vergehen. Dort aͤchzen ſchlafloſe Kranken; und nicht
weit von ihnen jauchzen ſchlafloſe Thoren, welche Urſache haͤtten
zu weinen. Der Geizige (eine andre Gattung von Verruͤckten)
zaͤhlet bei blaſſem Lampenſchein aͤngſtlich Gelder, die ihm oder
vielmehr ſeinem betrognen Naͤchſten gehoͤren. Gelehrte verkuͤr-
zen ſich das Leben, und viele unter ihnen, (eine neue Art von

Thoren!
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0180" n="143[173]"/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
          <div n="3">
            <head>Der 9<hi rendition="#sup">te</hi> Ma&#x0364;rz.</head><lb/>
            <lg type="poem">
              <l>Muß man hier doch wie im Kerker leben,</l><lb/>
              <l>Wo nur Sorge, Frucht und Schrecken &#x017F;chweben:</l><lb/>
              <l>Was wir hie kennen,</l><lb/>
              <l>I&#x017F;t nur Mu&#x0364;h und Herzeleid zu nennen.</l>
            </lg><lb/>
            <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
            <p><hi rendition="#in">W</hi>ann ich am Abend aus dem Gewirre der Welt zuru&#x0364;ckkomme,<lb/>
und mich mit dir, mein himli&#x017F;cher Vater! in der Ein&#x017F;am-<lb/>
keit unterhalte: &#x017F;o i&#x017F;t es, als ob ich aus einem Ho&#x017F;pitale ka&#x0364;me,<lb/>
und mich von dem betru&#x0364;bten Anblicke wieder zu erholen &#x017F;uchte.<lb/>
Die arme Welt! Von au&#x017F;&#x017F;en &#x017F;cheinet &#x017F;ie ein Palla&#x017F;t: aber kaum<lb/>
mit man u&#x0364;ber die Schwelle, &#x017F;o wird man des Jammers gewahr.</p><lb/>
            <p>I&#x017F;t nicht <hi rendition="#fr">die Erde ein Spital?</hi> Fa&#x017F;t jede Familie hat<lb/>
ihre Kranken, ihre Bettler, ihre Halbverru&#x0364;ckten, und andre le-<lb/>
bendige Schand&#x017F;a&#x0364;ulen. Wie viele &#x017F;to&#x017F;&#x017F;en mir nicht allenthalben<lb/>
auf, welche Hu&#x0364;lfe begehren! Und ich Armer bin ihrer die mei&#x017F;te<lb/>
Zeit &#x017F;elb&#x017F;t bedu&#x0364;rftig! Wolte ich jetzt die &#x017F;tille Ga&#x017F;&#x017F;en durchgehn:<lb/>
was wu&#x0364;rde ich ho&#x0364;ren? Hier einen Betenden und Singenden, der,<lb/>
wenn er es redlich meint, u&#x0364;ber &#x017F;eine Untugenden &#x017F;eufzet, und &#x017F;ich<lb/>
go&#x0364;ttliche Hu&#x0364;lfe fu&#x0364;r die Nacht erflehet. Da &#x017F;chreien zarte Kin-<lb/>
der, und ihre Eltern und Wa&#x0364;rter mo&#x0364;gten fu&#x0364;r Ungeduld und<lb/>
Wehmut vergehen. Dort a&#x0364;chzen &#x017F;chlaflo&#x017F;e Kranken; und nicht<lb/>
weit von ihnen jauchzen &#x017F;chlaflo&#x017F;e Thoren, welche Ur&#x017F;ache ha&#x0364;tten<lb/>
zu weinen. Der Geizige (eine andre Gattung von Verru&#x0364;ckten)<lb/>
za&#x0364;hlet bei bla&#x017F;&#x017F;em Lampen&#x017F;chein a&#x0364;ng&#x017F;tlich Gelder, die ihm oder<lb/>
vielmehr &#x017F;einem betrognen Na&#x0364;ch&#x017F;ten geho&#x0364;ren. Gelehrte verku&#x0364;r-<lb/>
zen &#x017F;ich das Leben, und viele unter ihnen, (eine neue Art von<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">Thoren!</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[143[173]/0180] Der 9te Maͤrz. Muß man hier doch wie im Kerker leben, Wo nur Sorge, Frucht und Schrecken ſchweben: Was wir hie kennen, Iſt nur Muͤh und Herzeleid zu nennen. Wann ich am Abend aus dem Gewirre der Welt zuruͤckkomme, und mich mit dir, mein himliſcher Vater! in der Einſam- keit unterhalte: ſo iſt es, als ob ich aus einem Hoſpitale kaͤme, und mich von dem betruͤbten Anblicke wieder zu erholen ſuchte. Die arme Welt! Von auſſen ſcheinet ſie ein Pallaſt: aber kaum mit man uͤber die Schwelle, ſo wird man des Jammers gewahr. Iſt nicht die Erde ein Spital? Faſt jede Familie hat ihre Kranken, ihre Bettler, ihre Halbverruͤckten, und andre le- bendige Schandſaͤulen. Wie viele ſtoſſen mir nicht allenthalben auf, welche Huͤlfe begehren! Und ich Armer bin ihrer die meiſte Zeit ſelbſt beduͤrftig! Wolte ich jetzt die ſtille Gaſſen durchgehn: was wuͤrde ich hoͤren? Hier einen Betenden und Singenden, der, wenn er es redlich meint, uͤber ſeine Untugenden ſeufzet, und ſich goͤttliche Huͤlfe fuͤr die Nacht erflehet. Da ſchreien zarte Kin- der, und ihre Eltern und Waͤrter moͤgten fuͤr Ungeduld und Wehmut vergehen. Dort aͤchzen ſchlafloſe Kranken; und nicht weit von ihnen jauchzen ſchlafloſe Thoren, welche Urſache haͤtten zu weinen. Der Geizige (eine andre Gattung von Verruͤckten) zaͤhlet bei blaſſem Lampenſchein aͤngſtlich Gelder, die ihm oder vielmehr ſeinem betrognen Naͤchſten gehoͤren. Gelehrte verkuͤr- zen ſich das Leben, und viele unter ihnen, (eine neue Art von Thoren!

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Matthias Boenig, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Li Xang: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription. (2023-05-24T12:24:22Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, Linda Kirsten, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels

Weitere Informationen:

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/180
Zitationshilfe: Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 143[173]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/180>, abgerufen am 21.11.2024.