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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775.

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Der 15te März.
Bei Gott ist leicht Vergebung:
Bei Menschen ist sie schwer.
Sie rechnen deine Fehler
Noch Kindeskindern her.


Ach! wie viel Fehltritte habe ich nicht in meinem Leben began-
gen! Gott kennet sie alle: aber die Menschen kennen ihrer
doch noch mehr, nemlich solche, von denen der Allwissende nichts
weiß. Bin ich ein rechtschafner Christ, so kan ich rein und als
ein Heiliger vor den Himmel hintreten: aber die Erde höret nicht
auf mich zu besudeln. Die schwere Vergebung bei Men-
schen
ist eine Wahrheit, bei welcher der Himmel seufzt. Die
Menschen haben niemals ein besser Gedächtniß, als wenn es auf
ihre gute und des Nächsten böse Werke ankomt. Umgekehrt
aber sind sie höchst vergeßlich: ihre Beleidigungen und des Räch-
sten Wohlthaten schmelzen bei ihnen, wie der Schnee jetzt in der
Mittagssonne.

Gutherziger Mensch! kennest du denn die Gefährten deiner
Wallfarth noch nicht? Ach! wie lauren ihrer so viel und so scharf-
sichtig auf deine Bewegungen! Was du geredet hast, oder reden
kontest, das erzählt man sich von dir als eine landkündige That.
Du berusst dich auf deine Tugenden? Aber man gehet härter mit
ihnen um, als ein Algierer mit seinen Sklaven. Den Himmel
kanst du leichter befriedigen, als die Provinz, in der du lebest.
Jener unterscheidet doch Schwachheit und Bosheit: bei dieser ist
alles, auch so gar die meisten deiner Tugenden sind Laster und
Thorheit. Jeder suchet die Fehler und Trümmer der Ehre seines
Nächsten gar zu gern zusammen, bauet sich einen Thron, setzet
sich drauf, und will bewundert seyn. Ein Diebstal ist schlecht-
weg ein Diebstal, ohne die geringste Erbarmung. Aber die Er-

ziehung


Der 15te Maͤrz.
Bei Gott iſt leicht Vergebung:
Bei Menſchen iſt ſie ſchwer.
Sie rechnen deine Fehler
Noch Kindeskindern her.


Ach! wie viel Fehltritte habe ich nicht in meinem Leben began-
gen! Gott kennet ſie alle: aber die Menſchen kennen ihrer
doch noch mehr, nemlich ſolche, von denen der Allwiſſende nichts
weiß. Bin ich ein rechtſchafner Chriſt, ſo kan ich rein und als
ein Heiliger vor den Himmel hintreten: aber die Erde hoͤret nicht
auf mich zu beſudeln. Die ſchwere Vergebung bei Men-
ſchen
iſt eine Wahrheit, bei welcher der Himmel ſeufzt. Die
Menſchen haben niemals ein beſſer Gedaͤchtniß, als wenn es auf
ihre gute und des Naͤchſten boͤſe Werke ankomt. Umgekehrt
aber ſind ſie hoͤchſt vergeßlich: ihre Beleidigungen und des Raͤch-
ſten Wohlthaten ſchmelzen bei ihnen, wie der Schnee jetzt in der
Mittagsſonne.

Gutherziger Menſch! kenneſt du denn die Gefaͤhrten deiner
Wallfarth noch nicht? Ach! wie lauren ihrer ſo viel und ſo ſcharf-
ſichtig auf deine Bewegungen! Was du geredet haſt, oder reden
konteſt, das erzaͤhlt man ſich von dir als eine landkuͤndige That.
Du beruſſt dich auf deine Tugenden? Aber man gehet haͤrter mit
ihnen um, als ein Algierer mit ſeinen Sklaven. Den Himmel
kanſt du leichter befriedigen, als die Provinz, in der du lebeſt.
Jener unterſcheidet doch Schwachheit und Bosheit: bei dieſer iſt
alles, auch ſo gar die meiſten deiner Tugenden ſind Laſter und
Thorheit. Jeder ſuchet die Fehler und Truͤmmer der Ehre ſeines
Naͤchſten gar zu gern zuſammen, bauet ſich einen Thron, ſetzet
ſich drauf, und will bewundert ſeyn. Ein Diebſtal iſt ſchlecht-
weg ein Diebſtal, ohne die geringſte Erbarmung. Aber die Er-

ziehung
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[155[185]/0192] Der 15te Maͤrz. Bei Gott iſt leicht Vergebung: Bei Menſchen iſt ſie ſchwer. Sie rechnen deine Fehler Noch Kindeskindern her. Ach! wie viel Fehltritte habe ich nicht in meinem Leben began- gen! Gott kennet ſie alle: aber die Menſchen kennen ihrer doch noch mehr, nemlich ſolche, von denen der Allwiſſende nichts weiß. Bin ich ein rechtſchafner Chriſt, ſo kan ich rein und als ein Heiliger vor den Himmel hintreten: aber die Erde hoͤret nicht auf mich zu beſudeln. Die ſchwere Vergebung bei Men- ſchen iſt eine Wahrheit, bei welcher der Himmel ſeufzt. Die Menſchen haben niemals ein beſſer Gedaͤchtniß, als wenn es auf ihre gute und des Naͤchſten boͤſe Werke ankomt. Umgekehrt aber ſind ſie hoͤchſt vergeßlich: ihre Beleidigungen und des Raͤch- ſten Wohlthaten ſchmelzen bei ihnen, wie der Schnee jetzt in der Mittagsſonne. Gutherziger Menſch! kenneſt du denn die Gefaͤhrten deiner Wallfarth noch nicht? Ach! wie lauren ihrer ſo viel und ſo ſcharf- ſichtig auf deine Bewegungen! Was du geredet haſt, oder reden konteſt, das erzaͤhlt man ſich von dir als eine landkuͤndige That. Du beruſſt dich auf deine Tugenden? Aber man gehet haͤrter mit ihnen um, als ein Algierer mit ſeinen Sklaven. Den Himmel kanſt du leichter befriedigen, als die Provinz, in der du lebeſt. Jener unterſcheidet doch Schwachheit und Bosheit: bei dieſer iſt alles, auch ſo gar die meiſten deiner Tugenden ſind Laſter und Thorheit. Jeder ſuchet die Fehler und Truͤmmer der Ehre ſeines Naͤchſten gar zu gern zuſammen, bauet ſich einen Thron, ſetzet ſich drauf, und will bewundert ſeyn. Ein Diebſtal iſt ſchlecht- weg ein Diebſtal, ohne die geringſte Erbarmung. Aber die Er- ziehung

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Zitationshilfe: Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 155[185]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/192>, abgerufen am 21.11.2024.