Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775.

Bild:
<< vorherige Seite
Vorrede

So werden sich nach und nach mehr Raupen, Fliegen und
Käfer legitimiren: daß sie mehr können als blos bei uns
auf Execution liegen. Und alsdann wird sich der Mensch
schämen, daß er Ungeziefer nante, was einen so grossen
Nutzen für ihn hatte. Aber auch schon jetzt wird

5) unser Verstand durch Betrachtung dieser Minia-
turwelt vergrössert. Alle Augenblicke neue Aufgaben für
ihn! Ein Beispiel zur Probe! -- Auf diesem Baum
schliefet eine junge Gartenspinne aus dem Ei. Bey der
Mutter kan sie nicht lange bleiben; sie muß daher ihren
eignen Haushalt errichten. Klettern und Spinnen ist ihre
ganze Kunst, und doch soll sie von fliegenden Thieren leben.
Sie muß also aus dem Dickigt des Baums hervor, und
ihr Gewebe auf der Heerstrasse der Mücken und Fliegen
aufschlagen. Also von einem Baum etwa zum andern.
Und noch besser, wenn sie es über diesen Bach weg span-
nen könte, über welchem beständig kleine geflügelte Thiere
lustwandeln. Aber die Frage ist: wie soll die Spinne das
Wasser paßiren und ihr Gespinst an beide getrennte Bäu-
me befestigen? Eine wichtige Aufgabe für alle Akademien
der Wissenschaften, welche es noch nicht von der Spinne
gelernet hätten! -- Nein! ihr errathet es nicht. Aber
seht: die Spinne verfügt sich auf die äusserste Spitze eines
Zweiges, und drückt mit den beiden hintersten Füssen aus
ihren Spinnwarzen einen oder einige Faden etliche Ellen
lang. Diese überläßt sie der Luft, welche damit spielet und
endlich einmal einen Faden über das Flüßchen wehet. Die
Spinne, welche das andre Ende derselben im Leibe hat,
probiert von Zeit zu Zeit, ob der kleistrige Faden schon an-
gelandet und befestiget sey. Kaum fühlet sie, daß er straff
wird, so richtet sie ihn noch mehr zu einer Brücke ein, und
paßiret dieselbe gleich darauf. In der Mitte dieses Fadens
über dem Bach läßt sie sich an einem neuen Faden herab,

und
Vorrede

So werden ſich nach und nach mehr Raupen, Fliegen und
Kaͤfer legitimiren: daß ſie mehr koͤnnen als blos bei uns
auf Execution liegen. Und alsdann wird ſich der Menſch
ſchaͤmen, daß er Ungeziefer nante, was einen ſo groſſen
Nutzen fuͤr ihn hatte. Aber auch ſchon jetzt wird

5) unſer Verſtand durch Betrachtung dieſer Minia-
turwelt vergroͤſſert. Alle Augenblicke neue Aufgaben fuͤr
ihn! Ein Beiſpiel zur Probe! — Auf dieſem Baum
ſchliefet eine junge Gartenſpinne aus dem Ei. Bey der
Mutter kan ſie nicht lange bleiben; ſie muß daher ihren
eignen Haushalt errichten. Klettern und Spinnen iſt ihre
ganze Kunſt, und doch ſoll ſie von fliegenden Thieren leben.
Sie muß alſo aus dem Dickigt des Baums hervor, und
ihr Gewebe auf der Heerſtraſſe der Muͤcken und Fliegen
aufſchlagen. Alſo von einem Baum etwa zum andern.
Und noch beſſer, wenn ſie es uͤber dieſen Bach weg ſpan-
nen koͤnte, uͤber welchem beſtaͤndig kleine gefluͤgelte Thiere
luſtwandeln. Aber die Frage iſt: wie ſoll die Spinne das
Waſſer paßiren und ihr Geſpinſt an beide getrennte Baͤu-
me befeſtigen? Eine wichtige Aufgabe fuͤr alle Akademien
der Wiſſenſchaften, welche es noch nicht von der Spinne
gelernet haͤtten! — Nein! ihr errathet es nicht. Aber
ſeht: die Spinne verfuͤgt ſich auf die aͤuſſerſte Spitze eines
Zweiges, und druͤckt mit den beiden hinterſten Fuͤſſen aus
ihren Spinnwarzen einen oder einige Faden etliche Ellen
lang. Dieſe uͤberlaͤßt ſie der Luft, welche damit ſpielet und
endlich einmal einen Faden uͤber das Fluͤßchen wehet. Die
Spinne, welche das andre Ende derſelben im Leibe hat,
probiert von Zeit zu Zeit, ob der kleiſtrige Faden ſchon an-
gelandet und befeſtiget ſey. Kaum fuͤhlet ſie, daß er ſtraff
wird, ſo richtet ſie ihn noch mehr zu einer Bruͤcke ein, und
paßiret dieſelbe gleich darauf. In der Mitte dieſes Fadens
uͤber dem Bach laͤßt ſie ſich an einem neuen Faden herab,

und
<TEI>
  <text>
    <front>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0021" n="14"/>
        <fw place="top" type="header">Vorrede</fw><lb/>
        <p>So werden &#x017F;ich nach und nach mehr Raupen, Fliegen und<lb/>
Ka&#x0364;fer legitimiren: daß &#x017F;ie mehr ko&#x0364;nnen als blos bei uns<lb/>
auf Execution liegen. Und alsdann wird &#x017F;ich der Men&#x017F;ch<lb/>
&#x017F;cha&#x0364;men, daß er Ungeziefer nante, was einen &#x017F;o gro&#x017F;&#x017F;en<lb/>
Nutzen fu&#x0364;r ihn hatte. Aber auch &#x017F;chon jetzt wird</p><lb/>
        <p>5) un&#x017F;er Ver&#x017F;tand durch Betrachtung die&#x017F;er Minia-<lb/>
turwelt vergro&#x0364;&#x017F;&#x017F;ert. Alle Augenblicke neue Aufgaben fu&#x0364;r<lb/>
ihn! Ein Bei&#x017F;piel zur Probe! &#x2014; Auf die&#x017F;em Baum<lb/>
&#x017F;chliefet eine junge Garten&#x017F;pinne aus dem Ei. Bey der<lb/>
Mutter kan &#x017F;ie nicht lange bleiben; &#x017F;ie muß daher ihren<lb/>
eignen Haushalt errichten. Klettern und Spinnen i&#x017F;t ihre<lb/>
ganze Kun&#x017F;t, und doch &#x017F;oll &#x017F;ie von fliegenden Thieren leben.<lb/>
Sie muß al&#x017F;o aus dem Dickigt des Baums hervor, und<lb/>
ihr Gewebe auf der Heer&#x017F;tra&#x017F;&#x017F;e der Mu&#x0364;cken und Fliegen<lb/>
auf&#x017F;chlagen. Al&#x017F;o von einem Baum etwa zum andern.<lb/>
Und noch be&#x017F;&#x017F;er, wenn &#x017F;ie es u&#x0364;ber die&#x017F;en Bach weg &#x017F;pan-<lb/>
nen ko&#x0364;nte, u&#x0364;ber welchem be&#x017F;ta&#x0364;ndig kleine geflu&#x0364;gelte Thiere<lb/>
lu&#x017F;twandeln. Aber die Frage i&#x017F;t: wie &#x017F;oll die Spinne das<lb/>
Wa&#x017F;&#x017F;er paßiren und ihr Ge&#x017F;pin&#x017F;t an beide getrennte Ba&#x0364;u-<lb/>
me befe&#x017F;tigen? Eine wichtige Aufgabe fu&#x0364;r alle Akademien<lb/>
der Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaften, welche es noch nicht von der Spinne<lb/>
gelernet ha&#x0364;tten! &#x2014; Nein! ihr errathet es nicht. Aber<lb/>
&#x017F;eht: die Spinne verfu&#x0364;gt &#x017F;ich auf die a&#x0364;u&#x017F;&#x017F;er&#x017F;te Spitze eines<lb/>
Zweiges, und dru&#x0364;ckt mit den beiden hinter&#x017F;ten Fu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en aus<lb/>
ihren Spinnwarzen einen oder einige Faden etliche Ellen<lb/>
lang. Die&#x017F;e u&#x0364;berla&#x0364;ßt &#x017F;ie der Luft, welche damit &#x017F;pielet und<lb/>
endlich einmal einen Faden u&#x0364;ber das Flu&#x0364;ßchen wehet. Die<lb/>
Spinne, welche das andre Ende der&#x017F;elben im Leibe hat,<lb/>
probiert von Zeit zu Zeit, ob der klei&#x017F;trige Faden &#x017F;chon an-<lb/>
gelandet und befe&#x017F;tiget &#x017F;ey. Kaum fu&#x0364;hlet &#x017F;ie, daß er &#x017F;traff<lb/>
wird, &#x017F;o richtet &#x017F;ie ihn noch mehr zu einer Bru&#x0364;cke ein, und<lb/>
paßiret die&#x017F;elbe gleich darauf. In der Mitte die&#x017F;es Fadens<lb/>
u&#x0364;ber dem Bach la&#x0364;ßt &#x017F;ie &#x017F;ich an einem neuen Faden herab,<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">und</fw><lb/></p>
      </div>
    </front>
  </text>
</TEI>
[14/0021] Vorrede So werden ſich nach und nach mehr Raupen, Fliegen und Kaͤfer legitimiren: daß ſie mehr koͤnnen als blos bei uns auf Execution liegen. Und alsdann wird ſich der Menſch ſchaͤmen, daß er Ungeziefer nante, was einen ſo groſſen Nutzen fuͤr ihn hatte. Aber auch ſchon jetzt wird 5) unſer Verſtand durch Betrachtung dieſer Minia- turwelt vergroͤſſert. Alle Augenblicke neue Aufgaben fuͤr ihn! Ein Beiſpiel zur Probe! — Auf dieſem Baum ſchliefet eine junge Gartenſpinne aus dem Ei. Bey der Mutter kan ſie nicht lange bleiben; ſie muß daher ihren eignen Haushalt errichten. Klettern und Spinnen iſt ihre ganze Kunſt, und doch ſoll ſie von fliegenden Thieren leben. Sie muß alſo aus dem Dickigt des Baums hervor, und ihr Gewebe auf der Heerſtraſſe der Muͤcken und Fliegen aufſchlagen. Alſo von einem Baum etwa zum andern. Und noch beſſer, wenn ſie es uͤber dieſen Bach weg ſpan- nen koͤnte, uͤber welchem beſtaͤndig kleine gefluͤgelte Thiere luſtwandeln. Aber die Frage iſt: wie ſoll die Spinne das Waſſer paßiren und ihr Geſpinſt an beide getrennte Baͤu- me befeſtigen? Eine wichtige Aufgabe fuͤr alle Akademien der Wiſſenſchaften, welche es noch nicht von der Spinne gelernet haͤtten! — Nein! ihr errathet es nicht. Aber ſeht: die Spinne verfuͤgt ſich auf die aͤuſſerſte Spitze eines Zweiges, und druͤckt mit den beiden hinterſten Fuͤſſen aus ihren Spinnwarzen einen oder einige Faden etliche Ellen lang. Dieſe uͤberlaͤßt ſie der Luft, welche damit ſpielet und endlich einmal einen Faden uͤber das Fluͤßchen wehet. Die Spinne, welche das andre Ende derſelben im Leibe hat, probiert von Zeit zu Zeit, ob der kleiſtrige Faden ſchon an- gelandet und befeſtiget ſey. Kaum fuͤhlet ſie, daß er ſtraff wird, ſo richtet ſie ihn noch mehr zu einer Bruͤcke ein, und paßiret dieſelbe gleich darauf. In der Mitte dieſes Fadens uͤber dem Bach laͤßt ſie ſich an einem neuen Faden herab, und

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Matthias Boenig, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Li Xang: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription. (2023-05-24T12:24:22Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, Linda Kirsten, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels

Weitere Informationen:

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/21
Zitationshilfe: Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 14. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/21>, abgerufen am 03.12.2024.