und tappt so lange zu, bis sie einen Stein, eine Pflanze, ein Rohr erwischt, und ihn daran befestigt. Ferner -- ja nun verstehet es ein jeder, was sie ferner machen wird!
6) Wem mehr mit Geschmack als Verstande gedienet ist, der findet auch bei den Insekten seine Rechnung. Eine Dame kan ihre Toilette noch kürzer machen als ihren Mor- gensegen, wenn sie sich bei Raupen und Schmetterlingen in die Lehre begiebt. Letztere werden ihr wenigstens die Wahl ihrer Bänder, des Buders und der Spitzen und Frangen sehr erleichtern. Könte sie sich durchgehends so auf- fallend kleiden, wie z. E der Schmetterling von der Jesmin- raupe: so würden die Herren in der Gesellschaft am meisten gerühret werden, welche das Buch der Natur am wenig- sten lesen. Jedoch schade für diese Leute und ihre Flitter- pracht! Wir wollen mehr: wir wollen
7) Erbauung bei unsern Insekten lernen. Ich stehe dafür, daß niemand den verlornen Appetit der Raupe, ihre schwächliche Unthätigkeit, ihre verbleichende Farbe und Zusammenkriechung des Leibes; dann heftige wiederholte Zuckungen und endlich die Verwandlung zur Puppe be- trachten kan, ohne an seinen Tod zu denken. Aber nun nach verflossnem Winter: die Puppe oder besser das Grab, worin der Schmetterling ruhet, bekommt Erschütterungen: es verändert seine Farbe, und nun zerberstet es. Der Papillon mit den lebhaftesten Farben steiget heraus; seine kleine Flügel trocknen ab und wachsen binnen wenig Minu- ten; er läßt der Erde, was ihr gebühret und flieget nun frölich von dannen. Wem hiebei die Auferstehung von den Todten nicht einfällt, der allein mag die traurige Dispensa- tion von Naturbetrachtungen haben.
Ich muß schliessen, ob ich gleich auf mein Lieblings- thema gerathen bin. Nur den Nutzen (denn danach berechnen wir immer alles, nur die Sünde nicht!) den
Vortheil
Tiedens Abendand. 1. Th. b
zur zweiten Auflage.
und tappt ſo lange zu, bis ſie einen Stein, eine Pflanze, ein Rohr erwiſcht, und ihn daran befeſtigt. Ferner — ja nun verſtehet es ein jeder, was ſie ferner machen wird!
6) Wem mehr mit Geſchmack als Verſtande gedienet iſt, der findet auch bei den Inſekten ſeine Rechnung. Eine Dame kan ihre Toilette noch kuͤrzer machen als ihren Mor- genſegen, wenn ſie ſich bei Raupen und Schmetterlingen in die Lehre begiebt. Letztere werden ihr wenigſtens die Wahl ihrer Baͤnder, des Buders und der Spitzen und Frangen ſehr erleichtern. Koͤnte ſie ſich durchgehends ſo auf- fallend kleiden, wie z. E der Schmetterling von der Jesmin- raupe: ſo wuͤrden die Herren in der Geſellſchaft am meiſten geruͤhret werden, welche das Buch der Natur am wenig- ſten leſen. Jedoch ſchade fuͤr dieſe Leute und ihre Flitter- pracht! Wir wollen mehr: wir wollen
7) Erbauung bei unſern Inſekten lernen. Ich ſtehe dafuͤr, daß niemand den verlornen Appetit der Raupe, ihre ſchwaͤchliche Unthaͤtigkeit, ihre verbleichende Farbe und Zuſammenkriechung des Leibes; dann heftige wiederholte Zuckungen und endlich die Verwandlung zur Puppe be- trachten kan, ohne an ſeinen Tod zu denken. Aber nun nach verfloſſnem Winter: die Puppe oder beſſer das Grab, worin der Schmetterling ruhet, bekommt Erſchuͤtterungen: es veraͤndert ſeine Farbe, und nun zerberſtet es. Der Papillon mit den lebhafteſten Farben ſteiget heraus; ſeine kleine Fluͤgel trocknen ab und wachſen binnen wenig Minu- ten; er laͤßt der Erde, was ihr gebuͤhret und flieget nun froͤlich von dannen. Wem hiebei die Auferſtehung von den Todten nicht einfaͤllt, der allein mag die traurige Diſpenſa- tion von Naturbetrachtungen haben.
Ich muß ſchlieſſen, ob ich gleich auf mein Lieblings- thema gerathen bin. Nur den Nutzen (denn danach berechnen wir immer alles, nur die Suͤnde nicht!) den
Vortheil
Tiedens Abendand. 1. Th. b
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zur zweiten Auflage.
und tappt ſo lange zu, bis ſie einen Stein, eine Pflanze, ein
Rohr erwiſcht, und ihn daran befeſtigt. Ferner — ja nun
verſtehet es ein jeder, was ſie ferner machen wird!
6) Wem mehr mit Geſchmack als Verſtande gedienet
iſt, der findet auch bei den Inſekten ſeine Rechnung. Eine
Dame kan ihre Toilette noch kuͤrzer machen als ihren Mor-
genſegen, wenn ſie ſich bei Raupen und Schmetterlingen
in die Lehre begiebt. Letztere werden ihr wenigſtens die
Wahl ihrer Baͤnder, des Buders und der Spitzen und
Frangen ſehr erleichtern. Koͤnte ſie ſich durchgehends ſo auf-
fallend kleiden, wie z. E der Schmetterling von der Jesmin-
raupe: ſo wuͤrden die Herren in der Geſellſchaft am meiſten
geruͤhret werden, welche das Buch der Natur am wenig-
ſten leſen. Jedoch ſchade fuͤr dieſe Leute und ihre Flitter-
pracht! Wir wollen mehr: wir wollen
7) Erbauung bei unſern Inſekten lernen. Ich ſtehe
dafuͤr, daß niemand den verlornen Appetit der Raupe, ihre
ſchwaͤchliche Unthaͤtigkeit, ihre verbleichende Farbe und
Zuſammenkriechung des Leibes; dann heftige wiederholte
Zuckungen und endlich die Verwandlung zur Puppe be-
trachten kan, ohne an ſeinen Tod zu denken. Aber nun
nach verfloſſnem Winter: die Puppe oder beſſer das Grab,
worin der Schmetterling ruhet, bekommt Erſchuͤtterungen:
es veraͤndert ſeine Farbe, und nun zerberſtet es. Der
Papillon mit den lebhafteſten Farben ſteiget heraus; ſeine
kleine Fluͤgel trocknen ab und wachſen binnen wenig Minu-
ten; er laͤßt der Erde, was ihr gebuͤhret und flieget nun
froͤlich von dannen. Wem hiebei die Auferſtehung von den
Todten nicht einfaͤllt, der allein mag die traurige Diſpenſa-
tion von Naturbetrachtungen haben.
Ich muß ſchlieſſen, ob ich gleich auf mein Lieblings-
thema gerathen bin. Nur den Nutzen (denn danach
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Matthias Boenig, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Li Xang: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription.
(2023-05-24T12:24:22Z)
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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 15. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/22>, abgerufen am 21.11.2024.
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