Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775.

Bild:
<< vorherige Seite


Der 29te März.
Gib, daß ich thu mit Fleiß,
Was mir zu thun gebühret,
Wozu mich dein Befehl
Jn meinem Stande führet:
Gib, daß ichs thue bald
Zu der Zeit, da ich soll,
Und wenn ichs thu, so gib,
Daß es gerathe wohl.


Die größten Entschlüsse, ja oft die größte Thaten, sind das
Werk weniger Minuten. Der klügste Held entschliesset sich
kürzer zur Lieferung eines Treffens, als ein träger Thor zu einer
Spazierfarth. Wendete jeder Mensch nur den vierten Theil sei-
ner Stunden zum Guten und Nützlichen an, so läge nichts brach,
und die Summe von allen diesen Handlungen würde das Glück
der Menschen seyn. Man kan behaupten, daß der vierte Theil
des menschlichen Geschlechts nur würksam sey, die übrigen sind
unvermögend oder faul, und zehren von den Gedanken oder Hand-
arbeiten andrer Menschen.

Dis, angewendet auf die Tugend, rücket uns unsre Unter-
lassungssünden
vor. Denn niemals sind wir träger, als wenn
es auf Erkentniß und Verehrung Gottes ankomt. Die meisten
Menschen arbeiten sich lieber müde, oder hören lieber ein stunden-
langes unsinniges Geschwätz an, als daß sie ein Kapitel in der
Bibel mit Andacht läsen. Lasset ihnen die Wahl, ob sie lieber einem
Armen Geld, oder Unterricht und Ermahnungen geben wollen:
gewiß sie wählen das erstere. Bedenken wir nun vollend, daß
Tugenden leichter zu bewerkstelligen sind, als Handarbeiten; und
daß auch die unvermögendsten Kranken und Krüppel, Gott und
ihren Nächsten lieben, und diese ihre Liebe durch Blicke, Worte

und
M 4


Der 29te Maͤrz.
Gib, daß ich thu mit Fleiß,
Was mir zu thun gebuͤhret,
Wozu mich dein Befehl
Jn meinem Stande fuͤhret:
Gib, daß ichs thue bald
Zu der Zeit, da ich ſoll,
Und wenn ichs thu, ſo gib,
Daß es gerathe wohl.


Die groͤßten Entſchluͤſſe, ja oft die groͤßte Thaten, ſind das
Werk weniger Minuten. Der kluͤgſte Held entſchlieſſet ſich
kuͤrzer zur Lieferung eines Treffens, als ein traͤger Thor zu einer
Spazierfarth. Wendete jeder Menſch nur den vierten Theil ſei-
ner Stunden zum Guten und Nuͤtzlichen an, ſo laͤge nichts brach,
und die Summe von allen dieſen Handlungen wuͤrde das Gluͤck
der Menſchen ſeyn. Man kan behaupten, daß der vierte Theil
des menſchlichen Geſchlechts nur wuͤrkſam ſey, die uͤbrigen ſind
unvermoͤgend oder faul, und zehren von den Gedanken oder Hand-
arbeiten andrer Menſchen.

Dis, angewendet auf die Tugend, ruͤcket uns unſre Unter-
laſſungsſuͤnden
vor. Denn niemals ſind wir traͤger, als wenn
es auf Erkentniß und Verehrung Gottes ankomt. Die meiſten
Menſchen arbeiten ſich lieber muͤde, oder hoͤren lieber ein ſtunden-
langes unſinniges Geſchwaͤtz an, als daß ſie ein Kapitel in der
Bibel mit Andacht laͤſen. Laſſet ihnen die Wahl, ob ſie lieber einem
Armen Geld, oder Unterricht und Ermahnungen geben wollen:
gewiß ſie waͤhlen das erſtere. Bedenken wir nun vollend, daß
Tugenden leichter zu bewerkſtelligen ſind, als Handarbeiten; und
daß auch die unvermoͤgendſten Kranken und Kruͤppel, Gott und
ihren Naͤchſten lieben, und dieſe ihre Liebe durch Blicke, Worte

und
M 4
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0220" n="183[213]"/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
          <div n="3">
            <head> <hi rendition="#b">Der 29<hi rendition="#sup">te</hi> Ma&#x0364;rz.</hi> </head><lb/>
            <lg type="poem">
              <l><hi rendition="#in">G</hi>ib, daß ich thu mit Fleiß,</l><lb/>
              <l>Was mir zu thun gebu&#x0364;hret,</l><lb/>
              <l>Wozu mich dein Befehl</l><lb/>
              <l>Jn meinem Stande fu&#x0364;hret:</l><lb/>
              <l>Gib, daß ichs thue bald</l><lb/>
              <l>Zu der Zeit, da ich &#x017F;oll,</l><lb/>
              <l>Und wenn ichs thu, &#x017F;o gib,</l><lb/>
              <l>Daß es gerathe wohl.</l>
            </lg><lb/>
            <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
            <p><hi rendition="#in">D</hi>ie gro&#x0364;ßten Ent&#x017F;chlu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e, ja oft die gro&#x0364;ßte Thaten, &#x017F;ind das<lb/>
Werk weniger Minuten. Der klu&#x0364;g&#x017F;te Held ent&#x017F;chlie&#x017F;&#x017F;et &#x017F;ich<lb/>
ku&#x0364;rzer zur Lieferung eines Treffens, als ein tra&#x0364;ger Thor zu einer<lb/>
Spazierfarth. Wendete jeder Men&#x017F;ch nur den vierten Theil &#x017F;ei-<lb/>
ner Stunden zum Guten und Nu&#x0364;tzlichen an, &#x017F;o la&#x0364;ge nichts brach,<lb/>
und die Summe von allen die&#x017F;en Handlungen wu&#x0364;rde das Glu&#x0364;ck<lb/>
der Men&#x017F;chen &#x017F;eyn. Man kan behaupten, daß der vierte Theil<lb/>
des men&#x017F;chlichen Ge&#x017F;chlechts nur wu&#x0364;rk&#x017F;am &#x017F;ey, die u&#x0364;brigen &#x017F;ind<lb/>
unvermo&#x0364;gend oder faul, und zehren von den Gedanken oder Hand-<lb/>
arbeiten andrer Men&#x017F;chen.</p><lb/>
            <p>Dis, angewendet auf die Tugend, ru&#x0364;cket uns un&#x017F;re <hi rendition="#fr">Unter-<lb/>
la&#x017F;&#x017F;ungs&#x017F;u&#x0364;nden</hi> vor. Denn niemals &#x017F;ind wir tra&#x0364;ger, als wenn<lb/>
es auf Erkentniß und Verehrung Gottes ankomt. Die mei&#x017F;ten<lb/>
Men&#x017F;chen arbeiten &#x017F;ich lieber mu&#x0364;de, oder ho&#x0364;ren lieber ein &#x017F;tunden-<lb/>
langes un&#x017F;inniges Ge&#x017F;chwa&#x0364;tz an, als daß &#x017F;ie ein Kapitel in der<lb/>
Bibel mit Andacht la&#x0364;&#x017F;en. La&#x017F;&#x017F;et ihnen die Wahl, ob &#x017F;ie lieber einem<lb/>
Armen Geld, oder Unterricht und Ermahnungen geben wollen:<lb/>
gewiß &#x017F;ie wa&#x0364;hlen das er&#x017F;tere. Bedenken wir nun vollend, daß<lb/>
Tugenden leichter zu bewerk&#x017F;telligen &#x017F;ind, als Handarbeiten; und<lb/>
daß auch die unvermo&#x0364;gend&#x017F;ten Kranken und Kru&#x0364;ppel, Gott und<lb/>
ihren Na&#x0364;ch&#x017F;ten lieben, und die&#x017F;e ihre Liebe durch Blicke, Worte<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">M 4</fw><fw place="bottom" type="catch">und</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[183[213]/0220] Der 29te Maͤrz. Gib, daß ich thu mit Fleiß, Was mir zu thun gebuͤhret, Wozu mich dein Befehl Jn meinem Stande fuͤhret: Gib, daß ichs thue bald Zu der Zeit, da ich ſoll, Und wenn ichs thu, ſo gib, Daß es gerathe wohl. Die groͤßten Entſchluͤſſe, ja oft die groͤßte Thaten, ſind das Werk weniger Minuten. Der kluͤgſte Held entſchlieſſet ſich kuͤrzer zur Lieferung eines Treffens, als ein traͤger Thor zu einer Spazierfarth. Wendete jeder Menſch nur den vierten Theil ſei- ner Stunden zum Guten und Nuͤtzlichen an, ſo laͤge nichts brach, und die Summe von allen dieſen Handlungen wuͤrde das Gluͤck der Menſchen ſeyn. Man kan behaupten, daß der vierte Theil des menſchlichen Geſchlechts nur wuͤrkſam ſey, die uͤbrigen ſind unvermoͤgend oder faul, und zehren von den Gedanken oder Hand- arbeiten andrer Menſchen. Dis, angewendet auf die Tugend, ruͤcket uns unſre Unter- laſſungsſuͤnden vor. Denn niemals ſind wir traͤger, als wenn es auf Erkentniß und Verehrung Gottes ankomt. Die meiſten Menſchen arbeiten ſich lieber muͤde, oder hoͤren lieber ein ſtunden- langes unſinniges Geſchwaͤtz an, als daß ſie ein Kapitel in der Bibel mit Andacht laͤſen. Laſſet ihnen die Wahl, ob ſie lieber einem Armen Geld, oder Unterricht und Ermahnungen geben wollen: gewiß ſie waͤhlen das erſtere. Bedenken wir nun vollend, daß Tugenden leichter zu bewerkſtelligen ſind, als Handarbeiten; und daß auch die unvermoͤgendſten Kranken und Kruͤppel, Gott und ihren Naͤchſten lieben, und dieſe ihre Liebe durch Blicke, Worte und M 4

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Matthias Boenig, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Li Xang: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription. (2023-05-24T12:24:22Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, Linda Kirsten, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels

Weitere Informationen:

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/220
Zitationshilfe: Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 183[213]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/220>, abgerufen am 21.11.2024.