Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775.

Bild:
<< vorherige Seite


Der 7te April.
Sie wandeln auf Erden, und leben im Himmel;
Sie bleiben ohnmächtig, und schützen die Welt;
Sie schmecken den Frieden bei allem Getümmel;
Sie kriegen, die Aermsten, was ihnen gefält.


Das ist der Christ in seiner Hoheit. Seine Seele, bei
aller scheinbaren Niedrigkeit, ist erhabner als alle übrige
Menschenseelen, deren ganzes Glück, deren Höhe und Fall allein
von der Erdluft, gleich den Wettergläsern, abhängt. Sind wir
rechtschafne Frommen, so ist unser Wandel im Himmel, obgleich
unste Ferse den Erdboden berührt, und nicht selten von giftigen
Stichen verletzet wird.

Die Gedanken, welche der Christ den Tag über denkt, sind
so wichtig, daß sie kein Ruchloser unerschüttert lesen könte. Was
er heute gedacht hat, wird er nach Millionen Jahren mit engli-
schen Zungen singen: aber Sünder! deine Gedanken sind ein glän-
zendes Luftzeichen, mehr fürchterlich als nutzbar; und dein Witz
ist Sternschnuppen gleich: ein heller Strahl, aber Dunkel folget
darauf, und seine Stäte wird nicht mehr gefunden.

Das Herz des Frommen ist so edel als zärtlich. Jhm kan
man sicher seine Geheimnisse anvertrauen; was er zusaget, das
hält er gewiß. Die Fälle, wo sich auch der angesehenste Sün-
der seiner Worte und Handlungen schämen muß, sind nicht sel-
ten: dieser Demütigung ist der tugendreiche Christ überhoben;
ausser, wenn er mit Gott redet. Und eben dieser häufige Um-
gang mit Gott verfeinert seine Denkungsart immer mehr. Wie
Moses ehedem ein glänzend Angesicht im vierzigtägigen Umgange
mit Gott bekam: so glühen die Wangen des betenden Frommen
dermassen ehrwürdig, daß sich selbst Leichtsinnige in seiner Gegen-
wart keinen Fluch erlauben.

Da


Der 7te April.
Sie wandeln auf Erden, und leben im Himmel;
Sie bleiben ohnmaͤchtig, und ſchuͤtzen die Welt;
Sie ſchmecken den Frieden bei allem Getuͤmmel;
Sie kriegen, die Aermſten, was ihnen gefaͤlt.


Das iſt der Chriſt in ſeiner Hoheit. Seine Seele, bei
aller ſcheinbaren Niedrigkeit, iſt erhabner als alle uͤbrige
Menſchenſeelen, deren ganzes Gluͤck, deren Hoͤhe und Fall allein
von der Erdluft, gleich den Wetterglaͤſern, abhaͤngt. Sind wir
rechtſchafne Frommen, ſo iſt unſer Wandel im Himmel, obgleich
unſte Ferſe den Erdboden beruͤhrt, und nicht ſelten von giftigen
Stichen verletzet wird.

Die Gedanken, welche der Chriſt den Tag uͤber denkt, ſind
ſo wichtig, daß ſie kein Ruchloſer unerſchuͤttert leſen koͤnte. Was
er heute gedacht hat, wird er nach Millionen Jahren mit engli-
ſchen Zungen ſingen: aber Suͤnder! deine Gedanken ſind ein glaͤn-
zendes Luftzeichen, mehr fuͤrchterlich als nutzbar; und dein Witz
iſt Sternſchnuppen gleich: ein heller Strahl, aber Dunkel folget
darauf, und ſeine Staͤte wird nicht mehr gefunden.

Das Herz des Frommen iſt ſo edel als zaͤrtlich. Jhm kan
man ſicher ſeine Geheimniſſe anvertrauen; was er zuſaget, das
haͤlt er gewiß. Die Faͤlle, wo ſich auch der angeſehenſte Suͤn-
der ſeiner Worte und Handlungen ſchaͤmen muß, ſind nicht ſel-
ten: dieſer Demuͤtigung iſt der tugendreiche Chriſt uͤberhoben;
auſſer, wenn er mit Gott redet. Und eben dieſer haͤufige Um-
gang mit Gott verfeinert ſeine Denkungsart immer mehr. Wie
Moſes ehedem ein glaͤnzend Angeſicht im vierzigtaͤgigen Umgange
mit Gott bekam: ſo gluͤhen die Wangen des betenden Frommen
dermaſſen ehrwuͤrdig, daß ſich ſelbſt Leichtſinnige in ſeiner Gegen-
wart keinen Fluch erlauben.

Da
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0240" n="203[233]"/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
          <div n="3">
            <head> <hi rendition="#b">Der 7<hi rendition="#sup">te</hi> April.</hi> </head><lb/>
            <lg type="poem">
              <l><hi rendition="#in">S</hi>ie wandeln auf Erden, und leben im Himmel;</l><lb/>
              <l>Sie bleiben ohnma&#x0364;chtig, und &#x017F;chu&#x0364;tzen die Welt;</l><lb/>
              <l>Sie &#x017F;chmecken den Frieden bei allem Getu&#x0364;mmel;</l><lb/>
              <l>Sie kriegen, die Aerm&#x017F;ten, was ihnen gefa&#x0364;lt.</l>
            </lg><lb/>
            <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
            <p><hi rendition="#in">D</hi>as i&#x017F;t <hi rendition="#fr">der Chri&#x017F;t in &#x017F;einer Hoheit.</hi> Seine Seele, bei<lb/>
aller &#x017F;cheinbaren Niedrigkeit, i&#x017F;t erhabner als alle u&#x0364;brige<lb/>
Men&#x017F;chen&#x017F;eelen, deren ganzes Glu&#x0364;ck, deren Ho&#x0364;he und Fall allein<lb/>
von der Erdluft, gleich den Wettergla&#x0364;&#x017F;ern, abha&#x0364;ngt. Sind wir<lb/>
recht&#x017F;chafne Frommen, &#x017F;o i&#x017F;t un&#x017F;er Wandel im Himmel, obgleich<lb/>
un&#x017F;te Fer&#x017F;e den Erdboden beru&#x0364;hrt, und nicht &#x017F;elten von giftigen<lb/>
Stichen verletzet wird.</p><lb/>
            <p>Die Gedanken, welche der Chri&#x017F;t den Tag u&#x0364;ber denkt, &#x017F;ind<lb/>
&#x017F;o wichtig, daß &#x017F;ie kein Ruchlo&#x017F;er uner&#x017F;chu&#x0364;ttert le&#x017F;en ko&#x0364;nte. Was<lb/>
er heute gedacht hat, wird er nach Millionen Jahren mit engli-<lb/>
&#x017F;chen Zungen &#x017F;ingen: aber Su&#x0364;nder! deine Gedanken &#x017F;ind ein gla&#x0364;n-<lb/>
zendes Luftzeichen, mehr fu&#x0364;rchterlich als nutzbar; und dein Witz<lb/>
i&#x017F;t Stern&#x017F;chnuppen gleich: ein heller Strahl, aber Dunkel folget<lb/>
darauf, und &#x017F;eine Sta&#x0364;te wird nicht mehr gefunden.</p><lb/>
            <p>Das Herz des Frommen i&#x017F;t &#x017F;o edel als za&#x0364;rtlich. Jhm kan<lb/>
man &#x017F;icher &#x017F;eine Geheimni&#x017F;&#x017F;e anvertrauen; was er zu&#x017F;aget, das<lb/>
ha&#x0364;lt er gewiß. Die Fa&#x0364;lle, wo &#x017F;ich auch der ange&#x017F;ehen&#x017F;te Su&#x0364;n-<lb/>
der &#x017F;einer Worte und Handlungen &#x017F;cha&#x0364;men muß, &#x017F;ind nicht &#x017F;el-<lb/>
ten: die&#x017F;er Demu&#x0364;tigung i&#x017F;t der tugendreiche Chri&#x017F;t u&#x0364;berhoben;<lb/>
au&#x017F;&#x017F;er, wenn er mit Gott redet. Und eben die&#x017F;er ha&#x0364;ufige Um-<lb/>
gang mit Gott verfeinert &#x017F;eine Denkungsart immer mehr. Wie<lb/>
Mo&#x017F;es ehedem ein gla&#x0364;nzend Ange&#x017F;icht im vierzigta&#x0364;gigen Umgange<lb/>
mit Gott bekam: &#x017F;o glu&#x0364;hen die Wangen des betenden Frommen<lb/>
derma&#x017F;&#x017F;en ehrwu&#x0364;rdig, daß &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t Leicht&#x017F;innige in &#x017F;einer Gegen-<lb/>
wart keinen Fluch erlauben.</p><lb/>
            <fw place="bottom" type="catch">Da</fw><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[203[233]/0240] Der 7te April. Sie wandeln auf Erden, und leben im Himmel; Sie bleiben ohnmaͤchtig, und ſchuͤtzen die Welt; Sie ſchmecken den Frieden bei allem Getuͤmmel; Sie kriegen, die Aermſten, was ihnen gefaͤlt. Das iſt der Chriſt in ſeiner Hoheit. Seine Seele, bei aller ſcheinbaren Niedrigkeit, iſt erhabner als alle uͤbrige Menſchenſeelen, deren ganzes Gluͤck, deren Hoͤhe und Fall allein von der Erdluft, gleich den Wetterglaͤſern, abhaͤngt. Sind wir rechtſchafne Frommen, ſo iſt unſer Wandel im Himmel, obgleich unſte Ferſe den Erdboden beruͤhrt, und nicht ſelten von giftigen Stichen verletzet wird. Die Gedanken, welche der Chriſt den Tag uͤber denkt, ſind ſo wichtig, daß ſie kein Ruchloſer unerſchuͤttert leſen koͤnte. Was er heute gedacht hat, wird er nach Millionen Jahren mit engli- ſchen Zungen ſingen: aber Suͤnder! deine Gedanken ſind ein glaͤn- zendes Luftzeichen, mehr fuͤrchterlich als nutzbar; und dein Witz iſt Sternſchnuppen gleich: ein heller Strahl, aber Dunkel folget darauf, und ſeine Staͤte wird nicht mehr gefunden. Das Herz des Frommen iſt ſo edel als zaͤrtlich. Jhm kan man ſicher ſeine Geheimniſſe anvertrauen; was er zuſaget, das haͤlt er gewiß. Die Faͤlle, wo ſich auch der angeſehenſte Suͤn- der ſeiner Worte und Handlungen ſchaͤmen muß, ſind nicht ſel- ten: dieſer Demuͤtigung iſt der tugendreiche Chriſt uͤberhoben; auſſer, wenn er mit Gott redet. Und eben dieſer haͤufige Um- gang mit Gott verfeinert ſeine Denkungsart immer mehr. Wie Moſes ehedem ein glaͤnzend Angeſicht im vierzigtaͤgigen Umgange mit Gott bekam: ſo gluͤhen die Wangen des betenden Frommen dermaſſen ehrwuͤrdig, daß ſich ſelbſt Leichtſinnige in ſeiner Gegen- wart keinen Fluch erlauben. Da

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Matthias Boenig, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Li Xang: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription. (2023-05-24T12:24:22Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, Linda Kirsten, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels

Weitere Informationen:

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/240
Zitationshilfe: Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 203[233]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/240>, abgerufen am 21.11.2024.