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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775.

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Der 12te April.
Laß doch mein Herz nicht fernerhin
Jn seiner Neigung wanken!
Erhebe den verirrten Sinn
Zu himlischen Gedanken!


Du, der du ewig derselbe bist! hör, o Gott! meine Seufzer
über meinen Wankelmut! Noch schneller als sich die
Frühlingswolken jagen; noch öfterer, als in diesem Monate,
Schneegestöber, Regen, Stürme, Schlossen und heitre Son-
nenblicke einander abwechseln: wechselt auch mein Herz in seinen
Entschliessungen ab. Ach! meine Frömmigkeit ist immer April-
wetter!

So wankt ein Rohr, vom Wind regiert:
So irrt, von Leidenschaft verführt,
Auch oftmals meine Seele!

Jn dieser Stunde bet ich den Himmel, und in einer andern
die Erde an. Und was hälfe mir das erste, wenn ich in der letz-
ten stürbe! Es sind Zeiten gewesen, wo ich mir getrauet hätte,
selig zu sterben; und dann kommen wieder so viele Tage, wo ich,
wie Adam, mich ins dickste Gebüsch verstecken mögte, wenn ich
deine Stimme in meinem Gewissen nur von weiten vernehme!
Wie oft beschloß ich es, dieser oder jener anwachsenden Sünde
Einhalt zu thun: aber es wurden mir einige Schlingen gelegt,
und ich war aufs neue verwickelt. Ach! daß ich nur noch den
Trost hätte, daß ich sie mir nicht meistens selber legte!

Nein! dich darf ich nicht anklagen, gütigster Vater! deine
Wege sind gewiß, und deine Gebote unwandelbar. Aber meine
Unbeständigkeit, meine Zerstreuungen, mein Umherjagen nach

zeit-
O 3


Der 12te April.
Laß doch mein Herz nicht fernerhin
Jn ſeiner Neigung wanken!
Erhebe den verirrten Sinn
Zu himliſchen Gedanken!


Du, der du ewig derſelbe biſt! hoͤr, o Gott! meine Seufzer
uͤber meinen Wankelmut! Noch ſchneller als ſich die
Fruͤhlingswolken jagen; noch oͤfterer, als in dieſem Monate,
Schneegeſtoͤber, Regen, Stuͤrme, Schloſſen und heitre Son-
nenblicke einander abwechſeln: wechſelt auch mein Herz in ſeinen
Entſchlieſſungen ab. Ach! meine Froͤmmigkeit iſt immer April-
wetter!

So wankt ein Rohr, vom Wind regiert:
So irrt, von Leidenſchaft verfuͤhrt,
Auch oftmals meine Seele!

Jn dieſer Stunde bet ich den Himmel, und in einer andern
die Erde an. Und was haͤlfe mir das erſte, wenn ich in der letz-
ten ſtuͤrbe! Es ſind Zeiten geweſen, wo ich mir getrauet haͤtte,
ſelig zu ſterben; und dann kommen wieder ſo viele Tage, wo ich,
wie Adam, mich ins dickſte Gebuͤſch verſtecken moͤgte, wenn ich
deine Stimme in meinem Gewiſſen nur von weiten vernehme!
Wie oft beſchloß ich es, dieſer oder jener anwachſenden Suͤnde
Einhalt zu thun: aber es wurden mir einige Schlingen gelegt,
und ich war aufs neue verwickelt. Ach! daß ich nur noch den
Troſt haͤtte, daß ich ſie mir nicht meiſtens ſelber legte!

Nein! dich darf ich nicht anklagen, guͤtigſter Vater! deine
Wege ſind gewiß, und deine Gebote unwandelbar. Aber meine
Unbeſtaͤndigkeit, meine Zerſtreuungen, mein Umherjagen nach

zeit-
O 3
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[213[243]/0250] Der 12te April. Laß doch mein Herz nicht fernerhin Jn ſeiner Neigung wanken! Erhebe den verirrten Sinn Zu himliſchen Gedanken! Du, der du ewig derſelbe biſt! hoͤr, o Gott! meine Seufzer uͤber meinen Wankelmut! Noch ſchneller als ſich die Fruͤhlingswolken jagen; noch oͤfterer, als in dieſem Monate, Schneegeſtoͤber, Regen, Stuͤrme, Schloſſen und heitre Son- nenblicke einander abwechſeln: wechſelt auch mein Herz in ſeinen Entſchlieſſungen ab. Ach! meine Froͤmmigkeit iſt immer April- wetter! So wankt ein Rohr, vom Wind regiert: So irrt, von Leidenſchaft verfuͤhrt, Auch oftmals meine Seele! Jn dieſer Stunde bet ich den Himmel, und in einer andern die Erde an. Und was haͤlfe mir das erſte, wenn ich in der letz- ten ſtuͤrbe! Es ſind Zeiten geweſen, wo ich mir getrauet haͤtte, ſelig zu ſterben; und dann kommen wieder ſo viele Tage, wo ich, wie Adam, mich ins dickſte Gebuͤſch verſtecken moͤgte, wenn ich deine Stimme in meinem Gewiſſen nur von weiten vernehme! Wie oft beſchloß ich es, dieſer oder jener anwachſenden Suͤnde Einhalt zu thun: aber es wurden mir einige Schlingen gelegt, und ich war aufs neue verwickelt. Ach! daß ich nur noch den Troſt haͤtte, daß ich ſie mir nicht meiſtens ſelber legte! Nein! dich darf ich nicht anklagen, guͤtigſter Vater! deine Wege ſind gewiß, und deine Gebote unwandelbar. Aber meine Unbeſtaͤndigkeit, meine Zerſtreuungen, mein Umherjagen nach zeit- O 3

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Zitationshilfe: Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 213[243]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/250>, abgerufen am 21.11.2024.