Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775.

Bild:
<< vorherige Seite


Der 22te April.
Jch rief dem Herrn in meiner Noth:
Ach Gott! vernimm mein Schreien;
Da half mein Helfer mir vom Tod
Und ließ mir Trost gedeien.
Drum dank, ach Gott! drum dank ich dir!
Ach! danket, danket Gott mit mir;
Gebt unserm Gott die Ehre!


Wo lebt ein verständiger Christ, der nicht schon in der Noth
gebetet, und göttliche Hülfe erfahren hätte! Vom wim-
mernden Geschrei, das uns die zuerst eingeathmete dicke Erdluft
auspreßte, bis zu den Seufzern dieses Monats, laufen in oft un-
terbrochener, aber doch langen Reihe unsre Angstgebete,
die wir vieleicht vergessen haben, aber Gott nicht. Und wenn
auf den wildesten Sünder jetzt eine Kugel abgedrückt würde, so
könte er sich schwerlich enthalten, heimlich zu wünschen: Ach Gott!
errette mich! Und hätte er Zeit dazu, so würde er hinzusetzen: ich
will mich auch bessern!

Diese Angstgebete verlieren, laut täglicher traurigen Er-
fahrung, fast allen ihren Werth. Aussaat bei heiterm Wetter
verspricht eine reichere Ernte, als wer es im Sturm, oder bei
Platzregen thut. Jndessen bleiben diese Seufzer in der Noth
doch, so zu reden, immer rechtskräftig. Sie sind die vergeßliche
Kleinigkeit nicht, wofür sie der Leichtsinn hält, sondern sie führen
mit starken Schritten dem Himmel oder der Hölle näher. Wer
neun und neunzigmal in der Gefahr betete, und nach der Erret-
tung nicht dankte, der wird wahrscheinlich zum hundertenmal in
der Todesnoth ein gleiches thun. Fast alle Sterbende beten:

aber
P 5


Der 22te April.
Jch rief dem Herrn in meiner Noth:
Ach Gott! vernimm mein Schreien;
Da half mein Helfer mir vom Tod
Und ließ mir Troſt gedeien.
Drum dank, ach Gott! drum dank ich dir!
Ach! danket, danket Gott mit mir;
Gebt unſerm Gott die Ehre!


Wo lebt ein verſtaͤndiger Chriſt, der nicht ſchon in der Noth
gebetet, und goͤttliche Huͤlfe erfahren haͤtte! Vom wim-
mernden Geſchrei, das uns die zuerſt eingeathmete dicke Erdluft
auspreßte, bis zu den Seufzern dieſes Monats, laufen in oft un-
terbrochener, aber doch langen Reihe unſre Angſtgebete,
die wir vieleicht vergeſſen haben, aber Gott nicht. Und wenn
auf den wildeſten Suͤnder jetzt eine Kugel abgedruͤckt wuͤrde, ſo
koͤnte er ſich ſchwerlich enthalten, heimlich zu wuͤnſchen: Ach Gott!
errette mich! Und haͤtte er Zeit dazu, ſo wuͤrde er hinzuſetzen: ich
will mich auch beſſern!

Dieſe Angſtgebete verlieren, laut taͤglicher traurigen Er-
fahrung, faſt allen ihren Werth. Ausſaat bei heiterm Wetter
verſpricht eine reichere Ernte, als wer es im Sturm, oder bei
Platzregen thut. Jndeſſen bleiben dieſe Seufzer in der Noth
doch, ſo zu reden, immer rechtskraͤftig. Sie ſind die vergeßliche
Kleinigkeit nicht, wofuͤr ſie der Leichtſinn haͤlt, ſondern ſie fuͤhren
mit ſtarken Schritten dem Himmel oder der Hoͤlle naͤher. Wer
neun und neunzigmal in der Gefahr betete, und nach der Erret-
tung nicht dankte, der wird wahrſcheinlich zum hundertenmal in
der Todesnoth ein gleiches thun. Faſt alle Sterbende beten:

aber
P 5
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0270" n="233[263]"/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
          <div n="3">
            <head> <hi rendition="#b">Der 22<hi rendition="#sup">te</hi> April.</hi> </head><lb/>
            <lg type="poem">
              <l><hi rendition="#in">J</hi>ch rief dem Herrn in meiner Noth:</l><lb/>
              <l>Ach Gott! vernimm mein Schreien;</l><lb/>
              <l>Da half mein Helfer mir vom Tod</l><lb/>
              <l>Und ließ mir Tro&#x017F;t gedeien.</l><lb/>
              <l>Drum dank, ach Gott! drum dank ich dir!</l><lb/>
              <l>Ach! danket, danket Gott mit mir;</l><lb/>
              <l>Gebt un&#x017F;erm Gott die Ehre!</l>
            </lg><lb/>
            <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
            <p><hi rendition="#in">W</hi>o lebt ein ver&#x017F;ta&#x0364;ndiger Chri&#x017F;t, der nicht &#x017F;chon in der Noth<lb/>
gebetet, und go&#x0364;ttliche Hu&#x0364;lfe erfahren ha&#x0364;tte! Vom wim-<lb/>
mernden Ge&#x017F;chrei, das uns die zuer&#x017F;t eingeathmete dicke Erdluft<lb/>
auspreßte, bis zu den Seufzern die&#x017F;es Monats, laufen in oft un-<lb/>
terbrochener, aber doch langen Reihe <hi rendition="#fr">un&#x017F;re Ang&#x017F;tgebete,</hi><lb/>
die wir vieleicht verge&#x017F;&#x017F;en haben, aber Gott nicht. Und wenn<lb/>
auf den wilde&#x017F;ten Su&#x0364;nder jetzt eine Kugel abgedru&#x0364;ckt wu&#x0364;rde, &#x017F;o<lb/>
ko&#x0364;nte er &#x017F;ich &#x017F;chwerlich enthalten, heimlich zu wu&#x0364;n&#x017F;chen: Ach Gott!<lb/>
errette mich! Und ha&#x0364;tte er Zeit dazu, &#x017F;o wu&#x0364;rde er hinzu&#x017F;etzen: ich<lb/>
will mich auch be&#x017F;&#x017F;ern!</p><lb/>
            <p>Die&#x017F;e Ang&#x017F;tgebete verlieren, laut ta&#x0364;glicher traurigen Er-<lb/>
fahrung, fa&#x017F;t allen ihren Werth. Aus&#x017F;aat bei heiterm Wetter<lb/>
ver&#x017F;pricht eine reichere Ernte, als wer es im Sturm, oder bei<lb/>
Platzregen thut. Jnde&#x017F;&#x017F;en bleiben die&#x017F;e Seufzer in der Noth<lb/>
doch, &#x017F;o zu reden, immer rechtskra&#x0364;ftig. Sie &#x017F;ind die vergeßliche<lb/>
Kleinigkeit nicht, wofu&#x0364;r &#x017F;ie der Leicht&#x017F;inn ha&#x0364;lt, &#x017F;ondern &#x017F;ie fu&#x0364;hren<lb/>
mit &#x017F;tarken Schritten dem Himmel oder der Ho&#x0364;lle na&#x0364;her. Wer<lb/>
neun und neunzigmal in der Gefahr betete, und nach der Erret-<lb/>
tung nicht dankte, der wird wahr&#x017F;cheinlich zum hundertenmal in<lb/>
der Todesnoth ein gleiches thun. Fa&#x017F;t alle Sterbende beten:<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">P 5</fw><fw place="bottom" type="catch">aber</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[233[263]/0270] Der 22te April. Jch rief dem Herrn in meiner Noth: Ach Gott! vernimm mein Schreien; Da half mein Helfer mir vom Tod Und ließ mir Troſt gedeien. Drum dank, ach Gott! drum dank ich dir! Ach! danket, danket Gott mit mir; Gebt unſerm Gott die Ehre! Wo lebt ein verſtaͤndiger Chriſt, der nicht ſchon in der Noth gebetet, und goͤttliche Huͤlfe erfahren haͤtte! Vom wim- mernden Geſchrei, das uns die zuerſt eingeathmete dicke Erdluft auspreßte, bis zu den Seufzern dieſes Monats, laufen in oft un- terbrochener, aber doch langen Reihe unſre Angſtgebete, die wir vieleicht vergeſſen haben, aber Gott nicht. Und wenn auf den wildeſten Suͤnder jetzt eine Kugel abgedruͤckt wuͤrde, ſo koͤnte er ſich ſchwerlich enthalten, heimlich zu wuͤnſchen: Ach Gott! errette mich! Und haͤtte er Zeit dazu, ſo wuͤrde er hinzuſetzen: ich will mich auch beſſern! Dieſe Angſtgebete verlieren, laut taͤglicher traurigen Er- fahrung, faſt allen ihren Werth. Ausſaat bei heiterm Wetter verſpricht eine reichere Ernte, als wer es im Sturm, oder bei Platzregen thut. Jndeſſen bleiben dieſe Seufzer in der Noth doch, ſo zu reden, immer rechtskraͤftig. Sie ſind die vergeßliche Kleinigkeit nicht, wofuͤr ſie der Leichtſinn haͤlt, ſondern ſie fuͤhren mit ſtarken Schritten dem Himmel oder der Hoͤlle naͤher. Wer neun und neunzigmal in der Gefahr betete, und nach der Erret- tung nicht dankte, der wird wahrſcheinlich zum hundertenmal in der Todesnoth ein gleiches thun. Faſt alle Sterbende beten: aber P 5

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Matthias Boenig, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Li Xang: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription. (2023-05-24T12:24:22Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, Linda Kirsten, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels

Weitere Informationen:

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/270
Zitationshilfe: Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 233[263]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/270>, abgerufen am 21.11.2024.