Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775.Der 22te April. aber der Allwissende richtet sie nach ihrem Herzen. Wie vieleKranken genesen; und sind eine Satyre auf ihre Angstgebete! Sahe das Gott nicht vorher? und wenn sie unter diesen falschen Angelobungen verstorben wären: welches mußte ihr Lohn seyn? Die Personalien der Leichenreden sind meistens wie die schwülsti- gen Titel des türkischen Kaisers, die ihm seine Schmeichler aus Unverstand geben. Der Wohlselige schlief mit betenden Lippen ein, und ist vieleicht doch ein Höllenbrand. Solte ich jetzt genau wissen, wie oft und brünstig, mit wel- Stell mir, Gott! meine Schulden recht öfters vor Augen! Der
Der 22te April. aber der Allwiſſende richtet ſie nach ihrem Herzen. Wie vieleKranken geneſen; und ſind eine Satyre auf ihre Angſtgebete! Sahe das Gott nicht vorher? und wenn ſie unter dieſen falſchen Angelobungen verſtorben waͤren: welches mußte ihr Lohn ſeyn? Die Perſonalien der Leichenreden ſind meiſtens wie die ſchwuͤlſti- gen Titel des tuͤrkiſchen Kaiſers, die ihm ſeine Schmeichler aus Unverſtand geben. Der Wohlſelige ſchlief mit betenden Lippen ein, und iſt vieleicht doch ein Hoͤllenbrand. Solte ich jetzt genau wiſſen, wie oft und bruͤnſtig, mit wel- Stell mir, Gott! meine Schulden recht oͤfters vor Augen! Der
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Der 22te April.
aber der Allwiſſende richtet ſie nach ihrem Herzen. Wie viele
Kranken geneſen; und ſind eine Satyre auf ihre Angſtgebete!
Sahe das Gott nicht vorher? und wenn ſie unter dieſen falſchen
Angelobungen verſtorben waͤren: welches mußte ihr Lohn ſeyn?
Die Perſonalien der Leichenreden ſind meiſtens wie die ſchwuͤlſti-
gen Titel des tuͤrkiſchen Kaiſers, die ihm ſeine Schmeichler aus
Unverſtand geben. Der Wohlſelige ſchlief mit betenden Lippen
ein, und iſt vieleicht doch ein Hoͤllenbrand.
Solte ich jetzt genau wiſſen, wie oft und bruͤnſtig, mit wel-
chem Herzklopfen, mit wie duͤrrer Zunge, ich Gottes Erbar-
mung anrief! wie viel ich in der Noth gelobte, und wie lau der
folgende Dank war: ſo muͤßte ich ſchamroth (und waͤre ich ein
Heiliger!) bekennen: daß ich meine Geluͤbde nicht halb erfuͤllet
habe. Die Angſt, die Huͤlfe und das Lob, hatten gar kein Ver-
haͤltniß zuſammen. Jch verſprach in Krankheiten, in Lebensge-
fahr, bei drohendem Verluſt der Meinigen, bei ſchrecklichen Bli-
tzen, bei entbloͤßten Schwerdtern der Feinde, auf verirrten We-
gen, und bei nagenden Gewiſſensbiſſen, ſo viel Froͤmmigkeit,
daß ich jetzt — ein Gottloſer bin.
Stell mir, Gott! meine Schulden recht oͤfters vor Augen!
Sie demuͤtigen mich, und ich wuͤrde mich ſchaͤmen, wenn meine
Feinde wuͤßten, wie kindiſch ich mich in der Angſt geberdete!
Aber du weißt es ja, und zaͤhlteſt jeden gejagten Pulsſchlag, und
wogeſt jeden Seufzer auf meine Rechnung ab! Jch rede jetzt mit
dir: aber mit welchem Affekt? Warum nicht ſo herzlich, ſo ehr-
furchtsvoll und bruͤnſtig, als ich ſogleich reden wuͤrde, wenn jetzt
bloſſe Degen auf mich hereindraͤngen, oder die Flamme aus dem
Dachſtuhl dieſes Hauſes hervorbraͤche? Jſt es Muͤdigkeit des Lei-
bes oder der Seele, daß ich ſo kaltſinnig bete? Ach Gott mein
einziger Helfer! erbarm dich uͤber mich. Erhoͤre mich, ich will
mich beſſern! Beſchuͤtz mich vor allem Unheil! Erhoͤr mich jetzt
und in der Todesſtunde! Amen.
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(2023-05-24T12:24:22Z)
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Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, Linda Kirsten, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels
Weitere Informationen:Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
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