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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775.

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Vorrede

Waren bald nach Christi Himmelfarth Sekten unter
den Christen entstanden, so darf es uns noch weniger be-
fremden, daß die protestantische Kirche bald einheimischen
Krieg bekam. Der Mensch mag lieber disputiren als
beten: im ersten Fall dünkt er sich groß, und im andern
muß er klein werden. Man focht also gegen Catholiken,
Zwinglianer, Calixtiner, Flacianer, und wer wolte die
Nahmen alle hernennen! Oft schlug man sich mit Wind-
mühlen herum, und man war so empfindlich, wie ein Be-
trunkner, der durchaus Zank haben will. Die Polemik
ward also wieder, wie bei den Kirchenvätern, das Leib-
studium. Um ihnen vollend auch recht ähnlich zu werden,
gewannen Anspielungen, Wortähnlichkeiten und Allegorien
wieder ihr vormaliges Ansehen. Man lese aus dem vorigen
Jahrhundert Balth. Meisners Predigten, (und er war
doch gewiß einer der vorzüglichsten Theologen und dama-
ligen Redner!) so wird man des ewigen Anzerrens der
Catholiken und Reformirten, wie auch der Tropen und Al-
legorien überdrüßig. Grosse Leute polemisirten zu rechter
Zeit: aber die kleinen setzten den Streit fort, wenn auch
kein Gegner mehr da war. Wie mancher Dorfprediger
stritt nicht noch zu Anfang dieses Jahrhunderts auf der
Kanzel mit den Papisten, ohnerachtet weder er noch seine
Gemeine jemals einen gesehen hatten, oder die geringste
Gefahr bevorstand!

Ich müßte ein dickes Buch schreiben, wenn ich alle
Moden zu erbauen durchgehen, und zeigen wolte, wie sie
zum theil veraltert, zum theil aber noch an manchen Orten
im Gange sind. Es gab Gottholds, welchen Swift
in seinen erbaulichen Betrachtungen über einen Besenstiel
nachspottete. Nur Eins! der mystische Vortrag hat die

wahre
Vorrede

Waren bald nach Chriſti Himmelfarth Sekten unter
den Chriſten entſtanden, ſo darf es uns noch weniger be-
fremden, daß die proteſtantiſche Kirche bald einheimiſchen
Krieg bekam. Der Menſch mag lieber diſputiren als
beten: im erſten Fall duͤnkt er ſich groß, und im andern
muß er klein werden. Man focht alſo gegen Catholiken,
Zwinglianer, Calixtiner, Flacianer, und wer wolte die
Nahmen alle hernennen! Oft ſchlug man ſich mit Wind-
muͤhlen herum, und man war ſo empfindlich, wie ein Be-
trunkner, der durchaus Zank haben will. Die Polemik
ward alſo wieder, wie bei den Kirchenvaͤtern, das Leib-
ſtudium. Um ihnen vollend auch recht aͤhnlich zu werden,
gewannen Anſpielungen, Wortaͤhnlichkeiten und Allegorien
wieder ihr vormaliges Anſehen. Man leſe aus dem vorigen
Jahrhundert Balth. Meisners Predigten, (und er war
doch gewiß einer der vorzuͤglichſten Theologen und dama-
ligen Redner!) ſo wird man des ewigen Anzerrens der
Catholiken und Reformirten, wie auch der Tropen und Al-
legorien uͤberdruͤßig. Groſſe Leute polemiſirten zu rechter
Zeit: aber die kleinen ſetzten den Streit fort, wenn auch
kein Gegner mehr da war. Wie mancher Dorfprediger
ſtritt nicht noch zu Anfang dieſes Jahrhunderts auf der
Kanzel mit den Papiſten, ohnerachtet weder er noch ſeine
Gemeine jemals einen geſehen hatten, oder die geringſte
Gefahr bevorſtand!

Ich muͤßte ein dickes Buch ſchreiben, wenn ich alle
Moden zu erbauen durchgehen, und zeigen wolte, wie ſie
zum theil veraltert, zum theil aber noch an manchen Orten
im Gange ſind. Es gab Gottholds, welchen Swift
in ſeinen erbaulichen Betrachtungen uͤber einen Beſenſtiel
nachſpottete. Nur Eins! der myſtiſche Vortrag hat die

wahre
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[24/0031] Vorrede Waren bald nach Chriſti Himmelfarth Sekten unter den Chriſten entſtanden, ſo darf es uns noch weniger be- fremden, daß die proteſtantiſche Kirche bald einheimiſchen Krieg bekam. Der Menſch mag lieber diſputiren als beten: im erſten Fall duͤnkt er ſich groß, und im andern muß er klein werden. Man focht alſo gegen Catholiken, Zwinglianer, Calixtiner, Flacianer, und wer wolte die Nahmen alle hernennen! Oft ſchlug man ſich mit Wind- muͤhlen herum, und man war ſo empfindlich, wie ein Be- trunkner, der durchaus Zank haben will. Die Polemik ward alſo wieder, wie bei den Kirchenvaͤtern, das Leib- ſtudium. Um ihnen vollend auch recht aͤhnlich zu werden, gewannen Anſpielungen, Wortaͤhnlichkeiten und Allegorien wieder ihr vormaliges Anſehen. Man leſe aus dem vorigen Jahrhundert Balth. Meisners Predigten, (und er war doch gewiß einer der vorzuͤglichſten Theologen und dama- ligen Redner!) ſo wird man des ewigen Anzerrens der Catholiken und Reformirten, wie auch der Tropen und Al- legorien uͤberdruͤßig. Groſſe Leute polemiſirten zu rechter Zeit: aber die kleinen ſetzten den Streit fort, wenn auch kein Gegner mehr da war. Wie mancher Dorfprediger ſtritt nicht noch zu Anfang dieſes Jahrhunderts auf der Kanzel mit den Papiſten, ohnerachtet weder er noch ſeine Gemeine jemals einen geſehen hatten, oder die geringſte Gefahr bevorſtand! Ich muͤßte ein dickes Buch ſchreiben, wenn ich alle Moden zu erbauen durchgehen, und zeigen wolte, wie ſie zum theil veraltert, zum theil aber noch an manchen Orten im Gange ſind. Es gab Gottholds, welchen Swift in ſeinen erbaulichen Betrachtungen uͤber einen Beſenſtiel nachſpottete. Nur Eins! der myſtiſche Vortrag hat die wahre

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Zitationshilfe: Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 24. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/31>, abgerufen am 21.11.2024.