seine Anhänger der Natur vordemonstrirten, wie sie wür- ken und nicht würken müsse: so glaubten die damaligen Moralisten, daß das Herz der Menschen keine andre Schlupfwinkel haben könne, als welche das Kompendium besagt. Die Recepte waren schon verordnet: die Krank- heit mogte kommen wie und wann sie wolte. Eine ausge- heckte Unter- und Nebeneintheilung einer unbegreiflichen Sache war damals wichtiger, als ein schöner und rührender Vortrag. Alle Wissenschaften, und was zu bewundern ist, diejenigen am meisten, die es mit den Unterkräften der Seele zu thun haben, hätten noch völlig den Abschied be- kommen, wenn nicht Reuchlin, Erasmus, Luther und andre Männer gekommen wären.
Die Reformation hat viel ähnliches mit der Religions- verbesserung der jüdischen Kirche durch Christum. Sie bleibt eine der merkwürdigsten Epochen der Güte Gottes und des menschlichen Verstandes. Man that im Anfang grosse Schritte, die Religionswarheiten wieder anneh- mungswürdig vorzutragen, nachdem sie lange genug eine Geschichte aus einer andern Welt gewesen waren. Es ist wol kaum nöthig zu sagen, daß ich beständig vom größten Theile rede, denn einzelne Ausnahmen fanden sich gottlob zu allen Zeiten. Man hat also auch nicht in allen Kirchen über den Aristoteles gepredigt, sondern es gab auch in den dunkelsten Zeiten einige wenige erbauliche Lehrer. Lutherus legt in seiner Predigt über die Epistel am 4ten Sont. nach Trinit, einigen vormaligen Kanzeln, wegen ihrer erbaulichen Erklärung dieser Epistel, Lob bei. Die Lehrer jener barbarischen Zeiten waren folglich nicht alle, Geisterseher.
Waren
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zur erſten Auflage.
ſeine Anhaͤnger der Natur vordemonſtrirten, wie ſie wuͤr- ken und nicht wuͤrken muͤſſe: ſo glaubten die damaligen Moraliſten, daß das Herz der Menſchen keine andre Schlupfwinkel haben koͤnne, als welche das Kompendium beſagt. Die Recepte waren ſchon verordnet: die Krank- heit mogte kommen wie und wann ſie wolte. Eine ausge- heckte Unter- und Nebeneintheilung einer unbegreiflichen Sache war damals wichtiger, als ein ſchoͤner und ruͤhrender Vortrag. Alle Wiſſenſchaften, und was zu bewundern iſt, diejenigen am meiſten, die es mit den Unterkraͤften der Seele zu thun haben, haͤtten noch voͤllig den Abſchied be- kommen, wenn nicht Reuchlin, Eraſmus, Luther und andre Maͤnner gekommen waͤren.
Die Reformation hat viel aͤhnliches mit der Religions- verbeſſerung der juͤdiſchen Kirche durch Chriſtum. Sie bleibt eine der merkwuͤrdigſten Epochen der Guͤte Gottes und des menſchlichen Verſtandes. Man that im Anfang groſſe Schritte, die Religionswarheiten wieder anneh- mungswuͤrdig vorzutragen, nachdem ſie lange genug eine Geſchichte aus einer andern Welt geweſen waren. Es iſt wol kaum noͤthig zu ſagen, daß ich beſtaͤndig vom groͤßten Theile rede, denn einzelne Ausnahmen fanden ſich gottlob zu allen Zeiten. Man hat alſo auch nicht in allen Kirchen uͤber den Ariſtoteles gepredigt, ſondern es gab auch in den dunkelſten Zeiten einige wenige erbauliche Lehrer. Lutherus legt in ſeiner Predigt uͤber die Epiſtel am 4ten Sont. nach Trinit, einigen vormaligen Kanzeln, wegen ihrer erbaulichen Erklaͤrung dieſer Epiſtel, Lob bei. Die Lehrer jener barbariſchen Zeiten waren folglich nicht alle, Geiſterſeher.
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zur erſten Auflage.
ſeine Anhaͤnger der Natur vordemonſtrirten, wie ſie wuͤr-
ken und nicht wuͤrken muͤſſe: ſo glaubten die damaligen
Moraliſten, daß das Herz der Menſchen keine andre
Schlupfwinkel haben koͤnne, als welche das Kompendium
beſagt. Die Recepte waren ſchon verordnet: die Krank-
heit mogte kommen wie und wann ſie wolte. Eine ausge-
heckte Unter- und Nebeneintheilung einer unbegreiflichen
Sache war damals wichtiger, als ein ſchoͤner und ruͤhrender
Vortrag. Alle Wiſſenſchaften, und was zu bewundern
iſt, diejenigen am meiſten, die es mit den Unterkraͤften der
Seele zu thun haben, haͤtten noch voͤllig den Abſchied be-
kommen, wenn nicht Reuchlin, Eraſmus, Luther
und andre Maͤnner gekommen waͤren.
Die Reformation hat viel aͤhnliches mit der Religions-
verbeſſerung der juͤdiſchen Kirche durch Chriſtum. Sie
bleibt eine der merkwuͤrdigſten Epochen der Guͤte Gottes
und des menſchlichen Verſtandes. Man that im Anfang
groſſe Schritte, die Religionswarheiten wieder anneh-
mungswuͤrdig vorzutragen, nachdem ſie lange genug eine
Geſchichte aus einer andern Welt geweſen waren. Es iſt
wol kaum noͤthig zu ſagen, daß ich beſtaͤndig vom groͤßten
Theile rede, denn einzelne Ausnahmen fanden ſich gottlob
zu allen Zeiten. Man hat alſo auch nicht in allen Kirchen
uͤber den Ariſtoteles gepredigt, ſondern es gab auch
in den dunkelſten Zeiten einige wenige erbauliche Lehrer.
Lutherus legt in ſeiner Predigt uͤber die Epiſtel am
4ten Sont. nach Trinit, einigen vormaligen Kanzeln, wegen
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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 23. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/30>, abgerufen am 16.07.2024.
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