Mensch! suche dir in allen Fällen Den Tod oft, lebhaft vorzustellen, So wirst du ihn nicht zitternd scheun; So wird er dir ein Trost im Klagen, Ein weiser Freund in guten Tagen, Ein Schild in der Versuchung seyn.
Schon sehe ich hin und wieder in den Gärten einige Blumen verwelken. Die Aurikel wird nun bald, gleich alternden Schönen, verachtet und vergessen; die sterbende Weisse der Nar- zisse gleichet einem Todtenhemde, und der glühende Kelch der Tulpe sinkt ermüdet zur Erde. Jst das nicht Erinnerung des Todes? War ich nicht gleichgültig, als diese unschuldige Kinder der Na- tur aus ihren Knospen, wie aus Windeln hervorsahen; warum solte ich denn jetzt so kaltsinnig vor ihren Sterbebetten vorüber gehn? Schweig, kindisches Herz! das Bild des Todes muß dir nicht fremd und fürchterlich seyn. Es ist ein hebender Schatten zu einem heitern Frühlingsabend. Und ist es nicht leichter und angenehmer, bei zusammen gerollten Narzissenblättern an den Tod zu gedenken, als bei der Schwindsucht, oder bei dem Kopfschüt- teln des Arztes? Bei Pulvern und Tropfengläsern sind die Ga- danken meistens zu irdisch und matt.
Aber so ist es, wir denken lieber die albernste Thorheiten, als den wichtigen Schritt aus der Welt. Die zärtlichste Dame mögte lieber mit Gemsen auf Gebürge klettern, als sich in Gedanken zu der Scene des Todes erheben. Als wenn man dadurch etwas ge- wönne, daß man diese Jdeen verschiebt! Gewiß so wenig, als wenn wir je später je besser erführen, daß unsre Wohnung brennet.
Je
Tiedens Abendand. I. Th. S
Der 11te Mai.
Menſch! ſuche dir in allen Faͤllen Den Tod oft, lebhaft vorzuſtellen, So wirſt du ihn nicht zitternd ſcheun; So wird er dir ein Troſt im Klagen, Ein weiſer Freund in guten Tagen, Ein Schild in der Verſuchung ſeyn.
Schon ſehe ich hin und wieder in den Gaͤrten einige Blumen verwelken. Die Aurikel wird nun bald, gleich alternden Schoͤnen, verachtet und vergeſſen; die ſterbende Weiſſe der Nar- ziſſe gleichet einem Todtenhemde, und der gluͤhende Kelch der Tulpe ſinkt ermuͤdet zur Erde. Jſt das nicht Erinnerung des Todes? War ich nicht gleichguͤltig, als dieſe unſchuldige Kinder der Na- tur aus ihren Knospen, wie aus Windeln hervorſahen; warum ſolte ich denn jetzt ſo kaltſinnig vor ihren Sterbebetten voruͤber gehn? Schweig, kindiſches Herz! das Bild des Todes muß dir nicht fremd und fuͤrchterlich ſeyn. Es iſt ein hebender Schatten zu einem heitern Fruͤhlingsabend. Und iſt es nicht leichter und angenehmer, bei zuſammen gerollten Narziſſenblaͤttern an den Tod zu gedenken, als bei der Schwindſucht, oder bei dem Kopfſchuͤt- teln des Arztes? Bei Pulvern und Tropfenglaͤſern ſind die Ga- danken meiſtens zu irdiſch und matt.
Aber ſo iſt es, wir denken lieber die albernſte Thorheiten, als den wichtigen Schritt aus der Welt. Die zaͤrtlichſte Dame moͤgte lieber mit Gemſen auf Gebuͤrge klettern, als ſich in Gedanken zu der Scene des Todes erheben. Als wenn man dadurch etwas ge- woͤnne, daß man dieſe Jdeen verſchiebt! Gewiß ſo wenig, als wenn wir je ſpaͤter je beſſer erfuͤhren, daß unſre Wohnung brennet.
Je
Tiedens Abendand. I. Th. S
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[273[303]/0310]
Der 11te Mai.
Menſch! ſuche dir in allen Faͤllen
Den Tod oft, lebhaft vorzuſtellen,
So wirſt du ihn nicht zitternd ſcheun;
So wird er dir ein Troſt im Klagen,
Ein weiſer Freund in guten Tagen,
Ein Schild in der Verſuchung ſeyn.
Schon ſehe ich hin und wieder in den Gaͤrten einige Blumen
verwelken. Die Aurikel wird nun bald, gleich alternden
Schoͤnen, verachtet und vergeſſen; die ſterbende Weiſſe der Nar-
ziſſe gleichet einem Todtenhemde, und der gluͤhende Kelch der Tulpe
ſinkt ermuͤdet zur Erde. Jſt das nicht Erinnerung des Todes?
War ich nicht gleichguͤltig, als dieſe unſchuldige Kinder der Na-
tur aus ihren Knospen, wie aus Windeln hervorſahen; warum
ſolte ich denn jetzt ſo kaltſinnig vor ihren Sterbebetten voruͤber
gehn? Schweig, kindiſches Herz! das Bild des Todes muß dir
nicht fremd und fuͤrchterlich ſeyn. Es iſt ein hebender Schatten
zu einem heitern Fruͤhlingsabend. Und iſt es nicht leichter und
angenehmer, bei zuſammen gerollten Narziſſenblaͤttern an den Tod
zu gedenken, als bei der Schwindſucht, oder bei dem Kopfſchuͤt-
teln des Arztes? Bei Pulvern und Tropfenglaͤſern ſind die Ga-
danken meiſtens zu irdiſch und matt.
Aber ſo iſt es, wir denken lieber die albernſte Thorheiten, als
den wichtigen Schritt aus der Welt. Die zaͤrtlichſte Dame moͤgte
lieber mit Gemſen auf Gebuͤrge klettern, als ſich in Gedanken zu
der Scene des Todes erheben. Als wenn man dadurch etwas ge-
woͤnne, daß man dieſe Jdeen verſchiebt! Gewiß ſo wenig, als
wenn wir je ſpaͤter je beſſer erfuͤhren, daß unſre Wohnung brennet.
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Tiedens Abendand. I. Th. S
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Matthias Boenig, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Li Xang: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription.
(2023-05-24T12:24:22Z)
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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 273[303]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/310>, abgerufen am 21.11.2024.
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