Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775.Der 11te Mai. Je öfter wir mit dem Tode umgehen, desto mehr lernen wir ihmseine Schönheiten ab. Kan der Zergliederer es dahin bringen, daß er Opern versäumt, und lieber in Leichnamen wühlt: so muß es ja der Christ noch viel weiter bringen, und aus seinem Tode sich ein Gedankenfest machen können. Ekel und Zittern sind keine Eigenschaften grosser Menschen. Unsre meisten Fehltritte entspringen daher, daß wir im Glü- Wohlthätiger Tod! du tritst mir mit diesem Abend einen Der
Der 11te Mai. Je oͤfter wir mit dem Tode umgehen, deſto mehr lernen wir ihmſeine Schoͤnheiten ab. Kan der Zergliederer es dahin bringen, daß er Opern verſaͤumt, und lieber in Leichnamen wuͤhlt: ſo muß es ja der Chriſt noch viel weiter bringen, und aus ſeinem Tode ſich ein Gedankenfeſt machen koͤnnen. Ekel und Zittern ſind keine Eigenſchaften groſſer Menſchen. Unſre meiſten Fehltritte entſpringen daher, daß wir im Gluͤ- Wohlthaͤtiger Tod! du tritſt mir mit dieſem Abend einen Der
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Der 11te Mai.
Je oͤfter wir mit dem Tode umgehen, deſto mehr lernen wir ihm
ſeine Schoͤnheiten ab. Kan der Zergliederer es dahin bringen,
daß er Opern verſaͤumt, und lieber in Leichnamen wuͤhlt: ſo muß
es ja der Chriſt noch viel weiter bringen, und aus ſeinem Tode
ſich ein Gedankenfeſt machen koͤnnen. Ekel und Zittern ſind keine
Eigenſchaften groſſer Menſchen.
Unſre meiſten Fehltritte entſpringen daher, daß wir im Gluͤ-
cke uͤbermuͤthig, im Ungluͤck verzagt und in Verſuchungen zu
ſchwach ſind. Denk an den Tod, ſo entgeheſt du dieſen Schlin-
gen. Der Grauſamſte hoͤret auf zu ſchlagen, wenn er Todes-
geſtalt unter ſich gewahr wird. Schwerverwundete muͤßten ver-
zagen, wenn ſie nicht der Tod troͤſtete; und in Gegenwart eines
Leichnams verloͤſcht das unzuͤchtige Feuer der Augen. Erinnerung
des Todes iſt demnach Gegengift wider die Suͤnden. Und nun
iſt es leicht zu errathen, warum das leichtſinnige Herz mit Bit-
ten oder Drohungen uns von Sterbegedanken zuruͤckhaͤlt. Es
verloͤre ſeine Herrſchaft uͤber den Verſtand, und der Menſch mag
lieber fuͤhlen als denken. Redet in einer lebhaften Geſellſchaft von
neuen Kleinigkeiten, von verborgnen Fehlern der Abweſenden,
oder von erlognen Vorzuͤgen der Anweſenden: man laͤchelt eurer
gefaͤlligen Lebensart von allen Seiten Beifall zu. Waget es aber,
und ſprecht von ihrer aller Tode, als ihrer wichtigſten Begeben-
heit und ihrem groͤßten Vorzuge, wofern ſie zu ſterben wiſſen:
man erſchrickt uͤber euren Wahnwitz, und fliehet eure Geſellſchaft
wie Krankenbetten und Todesbetrachtungen.
Wohlthaͤtiger Tod! du tritſt mir mit dieſem Abend einen
Schritt naͤher. Jch kan zwar in der Daͤmmerung deinen Ab-
ſtand von mir nicht recht unterſcheiden. Vieleicht, wenn du dei-
nen Arm ausſtreckſt, erreicheſt du mich ſchon. Es ſey! Jch habe
ja lange genug in der Welt gebluͤhet: du kanſt mich dem Him-
mel nicht entfuͤhren, wenn du gleich die Erde vor mir aufgraͤbſt.
Jch bete herzlich, Jeſus erhoͤret mich, und ſelig ſchlafe ich ein.
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(2023-05-24T12:24:22Z)
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Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, Linda Kirsten, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels
Weitere Informationen:Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
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