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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775.

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Der 21te Mai.
Gib mir ein Herz voll Zuversicht,
Erfüllt mit Lieb und Ruhe,
Ein weises Herz, das seine Pflicht
Erkenn und willig thue!
Daß ich, als ein getreues Kind
Nach deinem Reiche strebe;
Gerecht und fromm und keuschgesinnt
Durch deine Gnade lebe!


Lieber Vater im Himmel! -- ach! könte ich doch mit War-
heit hinzusetzen: ich dein liebes Kind auf Erden, will mich jetzt
noch einige Minuten mit dir unterhalten! Wie zärtlich wallet
dein Herz gegen mich! Hätte die Erde noch ein Bild von einer
feurigern Liebe, als zwischen Eltern und Kinder, oder zwischen
Bräutigam und Braut statt findet: du hättest gewiß deine Jn-
brunst gegen mich, in der heiligen Schrift damit bezeichnet. Va-
ter! und zwar ohne alle Fehler irdischer Eltern, Bruder! Freund!
Seelenbräutigam! Alle diese zärtliche Namen fodern meine Ehr-
furcht, kindliche Liebe gegen Gott und Zuversicht auf.

Jch kan also sicher meine Sorgen in deinen Schooß legen,
sicher mit dem verlornen Sohn zurückkehren, ganz sicher Hülfe
und Erbtheil von dir erwarten. Sündige ich, so liege ich in mei-
nem Blute vor dir, und dich jammert mein. Thue ich Busse,
so ist Freude im Himmel darüber. Strauchle ich, so sind En-
gel zu meinem Dienste ausgesandt. Sterbe ich als dein Kind:
so führen mich selige Geister, Jesus führet mich in mein Erbreich
ein, das mir bereitet ward von Anbeginn der Welt. Vater! --
o! ich denke mir noch immer viel zu wenig bei diesem Begriffe!

Der
T 3


Der 21te Mai.
Gib mir ein Herz voll Zuverſicht,
Erfuͤllt mit Lieb und Ruhe,
Ein weiſes Herz, das ſeine Pflicht
Erkenn und willig thue!
Daß ich, als ein getreues Kind
Nach deinem Reiche ſtrebe;
Gerecht und fromm und keuſchgeſinnt
Durch deine Gnade lebe!


Lieber Vater im Himmel! — ach! koͤnte ich doch mit War-
heit hinzuſetzen: ich dein liebes Kind auf Erden, will mich jetzt
noch einige Minuten mit dir unterhalten! Wie zaͤrtlich wallet
dein Herz gegen mich! Haͤtte die Erde noch ein Bild von einer
feurigern Liebe, als zwiſchen Eltern und Kinder, oder zwiſchen
Braͤutigam und Braut ſtatt findet: du haͤtteſt gewiß deine Jn-
brunſt gegen mich, in der heiligen Schrift damit bezeichnet. Va-
ter! und zwar ohne alle Fehler irdiſcher Eltern, Bruder! Freund!
Seelenbraͤutigam! Alle dieſe zaͤrtliche Namen fodern meine Ehr-
furcht, kindliche Liebe gegen Gott und Zuverſicht auf.

Jch kan alſo ſicher meine Sorgen in deinen Schooß legen,
ſicher mit dem verlornen Sohn zuruͤckkehren, ganz ſicher Huͤlfe
und Erbtheil von dir erwarten. Suͤndige ich, ſo liege ich in mei-
nem Blute vor dir, und dich jammert mein. Thue ich Buſſe,
ſo iſt Freude im Himmel daruͤber. Strauchle ich, ſo ſind En-
gel zu meinem Dienſte ausgeſandt. Sterbe ich als dein Kind:
ſo fuͤhren mich ſelige Geiſter, Jeſus fuͤhret mich in mein Erbreich
ein, das mir bereitet ward von Anbeginn der Welt. Vater! —
o! ich denke mir noch immer viel zu wenig bei dieſem Begriffe!

Der
T 3
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[293[323]/0330] Der 21te Mai. Gib mir ein Herz voll Zuverſicht, Erfuͤllt mit Lieb und Ruhe, Ein weiſes Herz, das ſeine Pflicht Erkenn und willig thue! Daß ich, als ein getreues Kind Nach deinem Reiche ſtrebe; Gerecht und fromm und keuſchgeſinnt Durch deine Gnade lebe! Lieber Vater im Himmel! — ach! koͤnte ich doch mit War- heit hinzuſetzen: ich dein liebes Kind auf Erden, will mich jetzt noch einige Minuten mit dir unterhalten! Wie zaͤrtlich wallet dein Herz gegen mich! Haͤtte die Erde noch ein Bild von einer feurigern Liebe, als zwiſchen Eltern und Kinder, oder zwiſchen Braͤutigam und Braut ſtatt findet: du haͤtteſt gewiß deine Jn- brunſt gegen mich, in der heiligen Schrift damit bezeichnet. Va- ter! und zwar ohne alle Fehler irdiſcher Eltern, Bruder! Freund! Seelenbraͤutigam! Alle dieſe zaͤrtliche Namen fodern meine Ehr- furcht, kindliche Liebe gegen Gott und Zuverſicht auf. Jch kan alſo ſicher meine Sorgen in deinen Schooß legen, ſicher mit dem verlornen Sohn zuruͤckkehren, ganz ſicher Huͤlfe und Erbtheil von dir erwarten. Suͤndige ich, ſo liege ich in mei- nem Blute vor dir, und dich jammert mein. Thue ich Buſſe, ſo iſt Freude im Himmel daruͤber. Strauchle ich, ſo ſind En- gel zu meinem Dienſte ausgeſandt. Sterbe ich als dein Kind: ſo fuͤhren mich ſelige Geiſter, Jeſus fuͤhret mich in mein Erbreich ein, das mir bereitet ward von Anbeginn der Welt. Vater! — o! ich denke mir noch immer viel zu wenig bei dieſem Begriffe! Der T 3

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Zitationshilfe: Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 293[323]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/330>, abgerufen am 21.11.2024.