Was ist das Leben hier? -- Ein ekler Cirkellauf! Mit Wimmern fängt es an, Mit Aechzen hört es auf.
Schon wieder muß ich mich vor dir, mein Gott! anklagen, daß ich gesündiget, und auch diesen Tag zu wenig für dei- nen Ruhm verlebet habe. Und ach! ich sehe es vorher, daß ich jeden Abend werde beten müssen: Herr! geh nicht mit mir ins Gericht! O! wann werde ich dahin kommen, daß ich das Ange- sicht meines Gottes, ohne Schamröthe anschauen mag!
Die ekle Einförmigkeit dieses Lebens ist unsrer ge- schäftigen und vorwärts trachtenden Seele wenig angemessen. Es ist ein ermüdender Kreislauf, gleich einem Postwagen, der im- mer reiset und niemals weiter kommt. Die Anmuth des Früh- lings, lachende Gärten, Felder und Wiesen sind schön: aber entzücken würden sie mich, wenn ich sie nicht schon so ofte gese- hen hätte. Jch bin also wieder so weit, als ich vor Jahresfrist war. Bei einer neuen Gattung von Nachtigallen würde ich auf die alten nicht sonderlich hören. Daher komt es zum theil mit, daß bejahrte Personen nicht so viel Geschmack an der Welt finden, als Jünglinge, die sich noch nicht satt gesehen und gehöret haben. Selbst die Sünden verlieren mit dem Reize ihre Neuheit vieles von ihrem Entzücken, und werden eine blosse Wiederkäuung. Begüterte Personen, welche in Einem Tage mehr sehen und ge- niessen als Arme in Einem Jahre, leben für diese Welt zu schnell,
und
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Der 22te Mai.
Was iſt das Leben hier? — Ein ekler Cirkellauf! Mit Wimmern faͤngt es an, Mit Aechzen hoͤrt es auf.
Schon wieder muß ich mich vor dir, mein Gott! anklagen, daß ich geſuͤndiget, und auch dieſen Tag zu wenig fuͤr dei- nen Ruhm verlebet habe. Und ach! ich ſehe es vorher, daß ich jeden Abend werde beten muͤſſen: Herr! geh nicht mit mir ins Gericht! O! wann werde ich dahin kommen, daß ich das Ange- ſicht meines Gottes, ohne Schamroͤthe anſchauen mag!
Die ekle Einfoͤrmigkeit dieſes Lebens iſt unſrer ge- ſchaͤftigen und vorwaͤrts trachtenden Seele wenig angemeſſen. Es iſt ein ermuͤdender Kreislauf, gleich einem Poſtwagen, der im- mer reiſet und niemals weiter kommt. Die Anmuth des Fruͤh- lings, lachende Gaͤrten, Felder und Wieſen ſind ſchoͤn: aber entzuͤcken wuͤrden ſie mich, wenn ich ſie nicht ſchon ſo ofte geſe- hen haͤtte. Jch bin alſo wieder ſo weit, als ich vor Jahresfriſt war. Bei einer neuen Gattung von Nachtigallen wuͤrde ich auf die alten nicht ſonderlich hoͤren. Daher komt es zum theil mit, daß bejahrte Perſonen nicht ſo viel Geſchmack an der Welt finden, als Juͤnglinge, die ſich noch nicht ſatt geſehen und gehoͤret haben. Selbſt die Suͤnden verlieren mit dem Reize ihre Neuheit vieles von ihrem Entzuͤcken, und werden eine bloſſe Wiederkaͤuung. Beguͤterte Perſonen, welche in Einem Tage mehr ſehen und ge- nieſſen als Arme in Einem Jahre, leben fuͤr dieſe Welt zu ſchnell,
und
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[295[325]/0332]
Der 22te Mai.
Was iſt das Leben hier? —
Ein ekler Cirkellauf!
Mit Wimmern faͤngt es an,
Mit Aechzen hoͤrt es auf.
Schon wieder muß ich mich vor dir, mein Gott! anklagen,
daß ich geſuͤndiget, und auch dieſen Tag zu wenig fuͤr dei-
nen Ruhm verlebet habe. Und ach! ich ſehe es vorher, daß ich
jeden Abend werde beten muͤſſen: Herr! geh nicht mit mir ins
Gericht! O! wann werde ich dahin kommen, daß ich das Ange-
ſicht meines Gottes, ohne Schamroͤthe anſchauen mag!
Die ekle Einfoͤrmigkeit dieſes Lebens iſt unſrer ge-
ſchaͤftigen und vorwaͤrts trachtenden Seele wenig angemeſſen. Es
iſt ein ermuͤdender Kreislauf, gleich einem Poſtwagen, der im-
mer reiſet und niemals weiter kommt. Die Anmuth des Fruͤh-
lings, lachende Gaͤrten, Felder und Wieſen ſind ſchoͤn: aber
entzuͤcken wuͤrden ſie mich, wenn ich ſie nicht ſchon ſo ofte geſe-
hen haͤtte. Jch bin alſo wieder ſo weit, als ich vor Jahresfriſt
war. Bei einer neuen Gattung von Nachtigallen wuͤrde ich auf
die alten nicht ſonderlich hoͤren. Daher komt es zum theil mit,
daß bejahrte Perſonen nicht ſo viel Geſchmack an der Welt finden,
als Juͤnglinge, die ſich noch nicht ſatt geſehen und gehoͤret haben.
Selbſt die Suͤnden verlieren mit dem Reize ihre Neuheit vieles
von ihrem Entzuͤcken, und werden eine bloſſe Wiederkaͤuung.
Beguͤterte Perſonen, welche in Einem Tage mehr ſehen und ge-
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Matthias Boenig, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Li Xang: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription.
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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 295[325]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/332>, abgerufen am 21.11.2024.
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