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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775.

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Der 26te Mai.
Versagt dir Gott ein irdisch Gut,
Mensch! so versagt er dirs aus Liebe;
Denn was er unterläßt und thut,
Geschieht aus gleichem Zweck und Triebe.


Jeder unsrer fünf Sinne befindet sich bei gewissen Thieren in
weit schärferm und vollkommnerm Grade. Sollen wir sie
deswegen beneiden? Jhnen waren sie ihrer Schwäche und Dum-
heit wegen nöthig: wir aber bekamen Verstand, der alles ersetzt,
was unsern Sinnen abgeht. Raubthiere mußten leises Gehör
und scharfe Augen haben, wofern sie der Lebensgefahr entgehen
und ihren Fraß finden solten. Katzen und Eulen mußten im fin-
stern sehen können, weil sie Ungeziefer mit vertilgen müssen, wel-
ches bei Nachtzeit umher streift. Von der Empfindlichkeit der
Spinne hänget ihr Fang ab, und die Fühlhörner der Jnsekten
müssen die Stelle von einigen Sinnen zugleich vertreten.

Gottes Güte bei unsern mangelhaften Sinnen
ist einleuchtend; denn sie sind so genan abgemessen, daß wir ver-
lören, wenn sie schärfer oder stumpfer wären. Scharfsichtigere
Augen würden uns so viel Gewürm allenthalben entdecken, daß
uns Blumen, Obst, Speise und Trank verekelt würden. Sähen
wir die Milbe so groß, wie wir jetzt ein Schaf sehen, so wäre
das eine neue Welt für uns. Wir würden so viele zerstreuende
Beobachtungen anstellen, daß wir unsern Hauptzweck darüber
vergässen. Wären aber unsre Augen blöder wie jetzt, so wäre
das in vielen Fällen ein Unglück: dann kennten wir die Pracht
des Sternhimmels nicht. Schärfer Gehör verstattete uns keine
Ruhe, und das unaufhörliche Gesumse in der Luft würde uns trun-
ken und verwirrt machen. Ein tauber Gehör aber beraubte uns

des


Der 26te Mai.
Verſagt dir Gott ein irdiſch Gut,
Menſch! ſo verſagt er dirs aus Liebe;
Denn was er unterlaͤßt und thut,
Geſchieht aus gleichem Zweck und Triebe.


Jeder unſrer fuͤnf Sinne befindet ſich bei gewiſſen Thieren in
weit ſchaͤrferm und vollkommnerm Grade. Sollen wir ſie
deswegen beneiden? Jhnen waren ſie ihrer Schwaͤche und Dum-
heit wegen noͤthig: wir aber bekamen Verſtand, der alles erſetzt,
was unſern Sinnen abgeht. Raubthiere mußten leiſes Gehoͤr
und ſcharfe Augen haben, wofern ſie der Lebensgefahr entgehen
und ihren Fraß finden ſolten. Katzen und Eulen mußten im fin-
ſtern ſehen koͤnnen, weil ſie Ungeziefer mit vertilgen muͤſſen, wel-
ches bei Nachtzeit umher ſtreift. Von der Empfindlichkeit der
Spinne haͤnget ihr Fang ab, und die Fuͤhlhoͤrner der Jnſekten
muͤſſen die Stelle von einigen Sinnen zugleich vertreten.

Gottes Guͤte bei unſern mangelhaften Sinnen
iſt einleuchtend; denn ſie ſind ſo genan abgemeſſen, daß wir ver-
loͤren, wenn ſie ſchaͤrfer oder ſtumpfer waͤren. Scharfſichtigere
Augen wuͤrden uns ſo viel Gewuͤrm allenthalben entdecken, daß
uns Blumen, Obſt, Speiſe und Trank verekelt wuͤrden. Saͤhen
wir die Milbe ſo groß, wie wir jetzt ein Schaf ſehen, ſo waͤre
das eine neue Welt fuͤr uns. Wir wuͤrden ſo viele zerſtreuende
Beobachtungen anſtellen, daß wir unſern Hauptzweck daruͤber
vergaͤſſen. Waͤren aber unſre Augen bloͤder wie jetzt, ſo waͤre
das in vielen Faͤllen ein Ungluͤck: dann kennten wir die Pracht
des Sternhimmels nicht. Schaͤrfer Gehoͤr verſtattete uns keine
Ruhe, und das unaufhoͤrliche Geſumſe in der Luft wuͤrde uns trun-
ken und verwirrt machen. Ein tauber Gehoͤr aber beraubte uns

des
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[303[333]/0340] Der 26te Mai. Verſagt dir Gott ein irdiſch Gut, Menſch! ſo verſagt er dirs aus Liebe; Denn was er unterlaͤßt und thut, Geſchieht aus gleichem Zweck und Triebe. Jeder unſrer fuͤnf Sinne befindet ſich bei gewiſſen Thieren in weit ſchaͤrferm und vollkommnerm Grade. Sollen wir ſie deswegen beneiden? Jhnen waren ſie ihrer Schwaͤche und Dum- heit wegen noͤthig: wir aber bekamen Verſtand, der alles erſetzt, was unſern Sinnen abgeht. Raubthiere mußten leiſes Gehoͤr und ſcharfe Augen haben, wofern ſie der Lebensgefahr entgehen und ihren Fraß finden ſolten. Katzen und Eulen mußten im fin- ſtern ſehen koͤnnen, weil ſie Ungeziefer mit vertilgen muͤſſen, wel- ches bei Nachtzeit umher ſtreift. Von der Empfindlichkeit der Spinne haͤnget ihr Fang ab, und die Fuͤhlhoͤrner der Jnſekten muͤſſen die Stelle von einigen Sinnen zugleich vertreten. Gottes Guͤte bei unſern mangelhaften Sinnen iſt einleuchtend; denn ſie ſind ſo genan abgemeſſen, daß wir ver- loͤren, wenn ſie ſchaͤrfer oder ſtumpfer waͤren. Scharfſichtigere Augen wuͤrden uns ſo viel Gewuͤrm allenthalben entdecken, daß uns Blumen, Obſt, Speiſe und Trank verekelt wuͤrden. Saͤhen wir die Milbe ſo groß, wie wir jetzt ein Schaf ſehen, ſo waͤre das eine neue Welt fuͤr uns. Wir wuͤrden ſo viele zerſtreuende Beobachtungen anſtellen, daß wir unſern Hauptzweck daruͤber vergaͤſſen. Waͤren aber unſre Augen bloͤder wie jetzt, ſo waͤre das in vielen Faͤllen ein Ungluͤck: dann kennten wir die Pracht des Sternhimmels nicht. Schaͤrfer Gehoͤr verſtattete uns keine Ruhe, und das unaufhoͤrliche Geſumſe in der Luft wuͤrde uns trun- ken und verwirrt machen. Ein tauber Gehoͤr aber beraubte uns des

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




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Zitationshilfe: Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 303[333]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/340>, abgerufen am 21.11.2024.