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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775.

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Der 26te Mai.
des Entzückens aus der Musik, und, um uns zu verstehen, wür-
den wir uns auf Kosten unsrer Lunge überschreien. Kurz: der
Herr hat alles wohl gemacht. Wir können mit unsern Sinnen
hier und dort glücklich werden: bedürfen wir mehr?

Jedoch, der Gedanke (ein heimlicher Tadel Gottes!) schlei-
chet sich immer wieder ein: es wäre doch besser, wenn wir schärfre
Sinnen hätten. Nein! just das Gegentheil. Waren und blie-
ben unsre Augen scharf wie des Adlers Blick: so wären wir nicht
aufs Glasschleifen verfallen; Brillen, Vergrößrungs - und Fern-
gläser wären nicht entdeckt, durch deren Hülfe wir nun noch wei-
ter und schärfer sehen, als Adler und Luchs. Witterten wir
unsre jedesmalige Heilkräuter untrüglich, so kennten wir das Jn-
nere unsers Körpers, den Unterschied der Kräuter und tausend
andre nützliche Kentnisse noch nicht. Anatomie, Chymie, Arze-
neikunst, Wundärzte, alles fiel weg. Wie wenig würden wir
Gott in seinen Werken kennen, wenn nicht unsre mangelhafte
Sinnen den Verstand angestrenget hätten, auf Hülfsmittel zu
denken! Kaum aber waren sie entdeckt, so gewährten sie uns
neuer Aussichten, und leiteten uns unvermerkt zur grössern Er-
kentniß Gottes. Wir suchten Befriedigung unsrer Sinne, und
fanden -- Gott!

Ja, ich finde dich, Allweiser! wo dich der blödsinnige Thor
vermißt. Was Mangel scheinet, ist Vollkommenheit, wenn
ich genauer drauf achte. Wo du eine Lücke liessest, da setztest du
die Mittel daneben, damit deine Geschöpfe würksam seyn, und sie
ausfüllen solten. Jch will jetzt schlafen. Schliefen die Menschen
noch einmal so viel oder so wenig: das wäre für Gesundheit,
Wohlstand und Tugend immer gefährlich. Wie thörigt ist doch
der Mensch, der Gott tadelt, und alle Augenblicke über Mangel
schreiet, da es doch nur an ihm lieget, reich und zufrieden zu seyn.
Herr! wenn ich klage, bin ich nur ein halber Mensch. Je mehr
ich dich kenne, desto lauter wird mein Lob. Wie laut wird es
nicht in der Ewigkeit seyn!

Der

Der 26te Mai.
des Entzuͤckens aus der Muſik, und, um uns zu verſtehen, wuͤr-
den wir uns auf Koſten unſrer Lunge uͤberſchreien. Kurz: der
Herr hat alles wohl gemacht. Wir koͤnnen mit unſern Sinnen
hier und dort gluͤcklich werden: beduͤrfen wir mehr?

Jedoch, der Gedanke (ein heimlicher Tadel Gottes!) ſchlei-
chet ſich immer wieder ein: es waͤre doch beſſer, wenn wir ſchaͤrfre
Sinnen haͤtten. Nein! juſt das Gegentheil. Waren und blie-
ben unſre Augen ſcharf wie des Adlers Blick: ſo waͤren wir nicht
aufs Glasſchleifen verfallen; Brillen, Vergroͤßrungs - und Fern-
glaͤſer waͤren nicht entdeckt, durch deren Huͤlfe wir nun noch wei-
ter und ſchaͤrfer ſehen, als Adler und Luchs. Witterten wir
unſre jedesmalige Heilkraͤuter untruͤglich, ſo kennten wir das Jn-
nere unſers Koͤrpers, den Unterſchied der Kraͤuter und tauſend
andre nuͤtzliche Kentniſſe noch nicht. Anatomie, Chymie, Arze-
neikunſt, Wundaͤrzte, alles fiel weg. Wie wenig wuͤrden wir
Gott in ſeinen Werken kennen, wenn nicht unſre mangelhafte
Sinnen den Verſtand angeſtrenget haͤtten, auf Huͤlfsmittel zu
denken! Kaum aber waren ſie entdeckt, ſo gewaͤhrten ſie uns
neuer Ausſichten, und leiteten uns unvermerkt zur groͤſſern Er-
kentniß Gottes. Wir ſuchten Befriedigung unſrer Sinne, und
fanden — Gott!

Ja, ich finde dich, Allweiſer! wo dich der bloͤdſinnige Thor
vermißt. Was Mangel ſcheinet, iſt Vollkommenheit, wenn
ich genauer drauf achte. Wo du eine Luͤcke lieſſeſt, da ſetzteſt du
die Mittel daneben, damit deine Geſchoͤpfe wuͤrkſam ſeyn, und ſie
ausfuͤllen ſolten. Jch will jetzt ſchlafen. Schliefen die Menſchen
noch einmal ſo viel oder ſo wenig: das waͤre fuͤr Geſundheit,
Wohlſtand und Tugend immer gefaͤhrlich. Wie thoͤrigt iſt doch
der Menſch, der Gott tadelt, und alle Augenblicke uͤber Mangel
ſchreiet, da es doch nur an ihm lieget, reich und zufrieden zu ſeyn.
Herr! wenn ich klage, bin ich nur ein halber Menſch. Je mehr
ich dich kenne, deſto lauter wird mein Lob. Wie laut wird es
nicht in der Ewigkeit ſeyn!

Der
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[304[334]/0341] Der 26te Mai. des Entzuͤckens aus der Muſik, und, um uns zu verſtehen, wuͤr- den wir uns auf Koſten unſrer Lunge uͤberſchreien. Kurz: der Herr hat alles wohl gemacht. Wir koͤnnen mit unſern Sinnen hier und dort gluͤcklich werden: beduͤrfen wir mehr? Jedoch, der Gedanke (ein heimlicher Tadel Gottes!) ſchlei- chet ſich immer wieder ein: es waͤre doch beſſer, wenn wir ſchaͤrfre Sinnen haͤtten. Nein! juſt das Gegentheil. Waren und blie- ben unſre Augen ſcharf wie des Adlers Blick: ſo waͤren wir nicht aufs Glasſchleifen verfallen; Brillen, Vergroͤßrungs - und Fern- glaͤſer waͤren nicht entdeckt, durch deren Huͤlfe wir nun noch wei- ter und ſchaͤrfer ſehen, als Adler und Luchs. Witterten wir unſre jedesmalige Heilkraͤuter untruͤglich, ſo kennten wir das Jn- nere unſers Koͤrpers, den Unterſchied der Kraͤuter und tauſend andre nuͤtzliche Kentniſſe noch nicht. Anatomie, Chymie, Arze- neikunſt, Wundaͤrzte, alles fiel weg. Wie wenig wuͤrden wir Gott in ſeinen Werken kennen, wenn nicht unſre mangelhafte Sinnen den Verſtand angeſtrenget haͤtten, auf Huͤlfsmittel zu denken! Kaum aber waren ſie entdeckt, ſo gewaͤhrten ſie uns neuer Ausſichten, und leiteten uns unvermerkt zur groͤſſern Er- kentniß Gottes. Wir ſuchten Befriedigung unſrer Sinne, und fanden — Gott! Ja, ich finde dich, Allweiſer! wo dich der bloͤdſinnige Thor vermißt. Was Mangel ſcheinet, iſt Vollkommenheit, wenn ich genauer drauf achte. Wo du eine Luͤcke lieſſeſt, da ſetzteſt du die Mittel daneben, damit deine Geſchoͤpfe wuͤrkſam ſeyn, und ſie ausfuͤllen ſolten. Jch will jetzt ſchlafen. Schliefen die Menſchen noch einmal ſo viel oder ſo wenig: das waͤre fuͤr Geſundheit, Wohlſtand und Tugend immer gefaͤhrlich. Wie thoͤrigt iſt doch der Menſch, der Gott tadelt, und alle Augenblicke uͤber Mangel ſchreiet, da es doch nur an ihm lieget, reich und zufrieden zu ſeyn. Herr! wenn ich klage, bin ich nur ein halber Menſch. Je mehr ich dich kenne, deſto lauter wird mein Lob. Wie laut wird es nicht in der Ewigkeit ſeyn! Der

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Zitationshilfe: Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 304[334]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/341>, abgerufen am 24.11.2024.