Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775.Der 27te Mai. Geniesse, was dir Gott beschieden: Entbehre gern, was du nicht hast: Ein jeder Stand hat seinen Frieden, Ein jeder Stand hat seine Last. Gott ist der Herr, und seinen Segen Vertheilt er stets mit weiser Hand; Nicht so, wie wirs zu wünschen pflegen, Doch so, wie ers uns heilsam fand. So schön dieser Monat auch ist, so fehlet ihm doch noch man- Ein Bild von unserm Leben! Das unvollständige Glück. Auch Tiedens Abendand. I. Th. U
Der 27te Mai. Genieſſe, was dir Gott beſchieden: Entbehre gern, was du nicht haſt: Ein jeder Stand hat ſeinen Frieden, Ein jeder Stand hat ſeine Laſt. Gott iſt der Herr, und ſeinen Segen Vertheilt er ſtets mit weiſer Hand; Nicht ſo, wie wirs zu wuͤnſchen pflegen, Doch ſo, wie ers uns heilſam fand. So ſchoͤn dieſer Monat auch iſt, ſo fehlet ihm doch noch man- Ein Bild von unſerm Leben! Das unvollſtaͤndige Gluͤck. Auch Tiedens Abendand. I. Th. U
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Der 27te Mai.
Genieſſe, was dir Gott beſchieden:
Entbehre gern, was du nicht haſt:
Ein jeder Stand hat ſeinen Frieden,
Ein jeder Stand hat ſeine Laſt.
Gott iſt der Herr, und ſeinen Segen
Vertheilt er ſtets mit weiſer Hand;
Nicht ſo, wie wirs zu wuͤnſchen pflegen,
Doch ſo, wie ers uns heilſam fand.
So ſchoͤn dieſer Monat auch iſt, ſo fehlet ihm doch noch man-
ches zur Vollkommenheit. Wir wuͤnſchen jetzt ſchmackhaf-
tes Obſt, und reichliche Gartenfruͤchte. Der Morgen und der
Abend ſind uns oͤfters noch zu kuͤhl, und — jedoch, wenn wir
uns erſt ins Wuͤnſchen einlaſſen: dann hoͤren wir ſo bald nicht wie-
der auf. Ein Thor wuͤnſchte ſich jetzt eine Schlittenfarth, der
andre moͤgte baden.
Ein Bild von unſerm Leben! Das unvollſtaͤndige Gluͤck.
der Menſchen bruͤtet Wuͤnſche uͤber Wuͤnſche aus. Jn jedem
Alter und Stande fehlet uns etwas, ſo, daß unſer verlangtes
Gluͤck niemals vollſtaͤndig wird. Wo viel Weisheit iſt, da iſt viel
Graͤmens, denn der Gelehrte iſt, wie ein Geiziger, unerſaͤttlich;
groſſer Reichthum erzeuget Sorgen und Zerſtreuung; bittre Ar-
mut gebieret Kummer und Verachtung. Der Landmann hat
ſeine Plage, Fuͤrſten haben die ihrige auch. Man kan jeden
Stand mit einem gewiſſen Monat des Jahrs vergleichen. Fuͤr
Arme iſt es immer Februar, fuͤr Reiche Julius oder Auguſt.
Auch
Tiedens Abendand. I. Th. U
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Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, Linda Kirsten, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels
Weitere Informationen:Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
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