Auch unser jedesmaliges Alter gleichet einer gewissen Jahrs- zeit. Unsre Kindheit ist den ersten Monaten des Jahrs ähnlich: viel Schlaf, Finsterniß im Verstande, und unfruchtbare Kälte in Handlungen. Etwa um das sechste Lebensjahr erreichen wir den März; schon heitre Sonnenblicke! aber es fehlt noch immer an allem. Der wetterwendische April ist ein Gemälde der ersten Jünglingsjahre, und so kan man die Vergleichung fortführen, bis zum hohen Alter, diesem December unsers Lebens, welches den ersten Kinderjahren so ähnlich ist.
Jeder Monat und jedes Alter haben ihr eigenthümliches Gu- tes und Schlimmes. Eltern beneiden ihr hüpfendes sorgenfreies Kind: dis aber wünschet sich seiner Eltern Geld, Ansehn, und Freiheit aus der Schule zu bleiben. Mit dem Jünglingsalter wird diesen Wünschen ziemlich abgeholfen: aber nun sind auch neue wetteifernde Begierden da: nun fodert man auch mehr als buntes Spielzeug. Wer wolte also diese göttliche Einrichtungen tadeln! Auf einer unter der Sünde arbeitenden Erde kan alles nur stück- weise vollkommen seyn. Hätten Kinder den Reichthum ihrer Eltern unter Händen: sie würden ihn verschleudern und sich Herz und Gesundheit verderben. Hätten Greise, bei ihrer vielen Erfah- rung, die Stärke und das flüchtige Blut ihrer Jugend: sie wür- den weniger an den Tod gedenken, kein junger Arbeiter könte ge- gen sie bestehen, und das Laster würde neue Gipfel ersteigen.
Allweiser! lehr mich Zufriedenheit! und wäre mein zeitli- ches Glück auch noch so klein: so wilst du mich nur gütig locken, daß ich nach ewiger und vollkommner Glückseligkeit schmachten soll. Du bist der Gott aller Jahrszeiten, jedes Alters und Schicksals. Deine Weisheit und Güte ist allenthalben kentlich. Jm Sonnenschein erwärmst und entzückest du mich mit deiner Gnade, und bei kühler Nacht erwärmst du mich auch im Schlaf. Jch mag wachen oder schlafen, so lebe ich von deiner Liebe. Wie du bei der Schöpfung, so sehe auch ich umher und siehe da, es ist alles sehr gut!
Der
Der 27te Mai.
Auch unſer jedesmaliges Alter gleichet einer gewiſſen Jahrs- zeit. Unſre Kindheit iſt den erſten Monaten des Jahrs aͤhnlich: viel Schlaf, Finſterniß im Verſtande, und unfruchtbare Kaͤlte in Handlungen. Etwa um das ſechſte Lebensjahr erreichen wir den Maͤrz; ſchon heitre Sonnenblicke! aber es fehlt noch immer an allem. Der wetterwendiſche April iſt ein Gemaͤlde der erſten Juͤnglingsjahre, und ſo kan man die Vergleichung fortfuͤhren, bis zum hohen Alter, dieſem December unſers Lebens, welches den erſten Kinderjahren ſo aͤhnlich iſt.
Jeder Monat und jedes Alter haben ihr eigenthuͤmliches Gu- tes und Schlimmes. Eltern beneiden ihr huͤpfendes ſorgenfreies Kind: dis aber wuͤnſchet ſich ſeiner Eltern Geld, Anſehn, und Freiheit aus der Schule zu bleiben. Mit dem Juͤnglingsalter wird dieſen Wuͤnſchen ziemlich abgeholfen: aber nun ſind auch neue wetteifernde Begierden da: nun fodert man auch mehr als buntes Spielzeug. Wer wolte alſo dieſe goͤttliche Einrichtungen tadeln! Auf einer unter der Suͤnde arbeitenden Erde kan alles nur ſtuͤck- weiſe vollkommen ſeyn. Haͤtten Kinder den Reichthum ihrer Eltern unter Haͤnden: ſie wuͤrden ihn verſchleudern und ſich Herz und Geſundheit verderben. Haͤtten Greiſe, bei ihrer vielen Erfah- rung, die Staͤrke und das fluͤchtige Blut ihrer Jugend: ſie wuͤr- den weniger an den Tod gedenken, kein junger Arbeiter koͤnte ge- gen ſie beſtehen, und das Laſter wuͤrde neue Gipfel erſteigen.
Allweiſer! lehr mich Zufriedenheit! und waͤre mein zeitli- ches Gluͤck auch noch ſo klein: ſo wilſt du mich nur guͤtig locken, daß ich nach ewiger und vollkommner Gluͤckſeligkeit ſchmachten ſoll. Du biſt der Gott aller Jahrszeiten, jedes Alters und Schickſals. Deine Weisheit und Guͤte iſt allenthalben kentlich. Jm Sonnenſchein erwaͤrmſt und entzuͤckeſt du mich mit deiner Gnade, und bei kuͤhler Nacht erwaͤrmſt du mich auch im Schlaf. Jch mag wachen oder ſchlafen, ſo lebe ich von deiner Liebe. Wie du bei der Schoͤpfung, ſo ſehe auch ich umher und ſiehe da, es iſt alles ſehr gut!
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Der 27te Mai.
Auch unſer jedesmaliges Alter gleichet einer gewiſſen Jahrs-
zeit. Unſre Kindheit iſt den erſten Monaten des Jahrs aͤhnlich:
viel Schlaf, Finſterniß im Verſtande, und unfruchtbare Kaͤlte in
Handlungen. Etwa um das ſechſte Lebensjahr erreichen wir den
Maͤrz; ſchon heitre Sonnenblicke! aber es fehlt noch immer an
allem. Der wetterwendiſche April iſt ein Gemaͤlde der erſten
Juͤnglingsjahre, und ſo kan man die Vergleichung fortfuͤhren, bis
zum hohen Alter, dieſem December unſers Lebens, welches den
erſten Kinderjahren ſo aͤhnlich iſt.
Jeder Monat und jedes Alter haben ihr eigenthuͤmliches Gu-
tes und Schlimmes. Eltern beneiden ihr huͤpfendes ſorgenfreies
Kind: dis aber wuͤnſchet ſich ſeiner Eltern Geld, Anſehn, und
Freiheit aus der Schule zu bleiben. Mit dem Juͤnglingsalter
wird dieſen Wuͤnſchen ziemlich abgeholfen: aber nun ſind auch neue
wetteifernde Begierden da: nun fodert man auch mehr als buntes
Spielzeug. Wer wolte alſo dieſe goͤttliche Einrichtungen tadeln!
Auf einer unter der Suͤnde arbeitenden Erde kan alles nur ſtuͤck-
weiſe vollkommen ſeyn. Haͤtten Kinder den Reichthum ihrer Eltern
unter Haͤnden: ſie wuͤrden ihn verſchleudern und ſich Herz und
Geſundheit verderben. Haͤtten Greiſe, bei ihrer vielen Erfah-
rung, die Staͤrke und das fluͤchtige Blut ihrer Jugend: ſie wuͤr-
den weniger an den Tod gedenken, kein junger Arbeiter koͤnte ge-
gen ſie beſtehen, und das Laſter wuͤrde neue Gipfel erſteigen.
Allweiſer! lehr mich Zufriedenheit! und waͤre mein zeitli-
ches Gluͤck auch noch ſo klein: ſo wilſt du mich nur guͤtig locken,
daß ich nach ewiger und vollkommner Gluͤckſeligkeit ſchmachten
ſoll. Du biſt der Gott aller Jahrszeiten, jedes Alters und
Schickſals. Deine Weisheit und Guͤte iſt allenthalben kentlich.
Jm Sonnenſchein erwaͤrmſt und entzuͤckeſt du mich mit deiner
Gnade, und bei kuͤhler Nacht erwaͤrmſt du mich auch im Schlaf.
Jch mag wachen oder ſchlafen, ſo lebe ich von deiner Liebe. Wie
du bei der Schoͤpfung, ſo ſehe auch ich umher und ſiehe da, es
iſt alles ſehr gut!
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Matthias Boenig, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Li Xang: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription.
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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 306[336]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/343>, abgerufen am 21.11.2024.
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