schaften dampfen einen Nebel aus, der sich meistens nur mit den Jahren legt: Greise im Lehnstuhl sehen am weitsten.
Die Ehre, diese Mahlzeit der Ohren, dis hitzige Getränk für den Verstand, wird Bejahrten am allermeisten verwilligt. Wet ihnen Ehrfurcht versagt, dessen Ehre ist bei allen Nationen vogel- frei. Ein weisses zitterndes Haupt bemächtigt sich des Beifalls mehr, als der breitste Gnadenstern. Der Greis wird ein Lan- desvater mit, und wofern etwas die menschliche Eigenliebe sätti- gen kan, so ist es das Ansehn, mit welchem demjenigen allent- halben begegnet wird, der uns als Augenzeuge das vorige Jahr- hundert schildern kan. Greise werden auch darin wie die Kinder, daß nur ein Barbar ihnen Leides thut.
Sonderlich aber bleibt das Sterben, diese Hauptwissenschaft, welche rothwangigte Menschen so schwer erlernen, nur halbe Ar- beit für die Ruinen der Vorwelt, die nach und nach zusammen- fallen. Der Welt absterben, heißt sich dem Himmel nähern. Ueberraschen kan der Tod den nicht, welchem die Natur zuruft: nun mußt du sterben!
Wäre es erlaubt, um irdische Güter feurig zu bitten: so wolte ich flehen: Herr! fodre mich ja nicht ehe von hinnen, als bis die Natur meinem Verstande zu Hülfe komt, bis ich alt und lebenssatt zu meinen Vätern versamlet werde. Jedoch du, Höch- ster! theilest deine Gaben nach unbegreiflichen Regeln aus. Ge- nug! ich sehe, wenn du mir das Leben aus Gnaden fristest, (das heißt zugleich, wenn ich tugendhaft lebe) eine angenehme Aus- sicht vor mir; um desto angenehmer, je mehr ich kindischer Eigen- liebe und sündlicher Thorheiten beizeiten entsage. Die Frage ist wichtig: wie werde ich im achzigsten Jahre gesinnet seyn? was werde ich denken? womit mich beschäftigen? wer wird mein pfle- gender Freund seyn? Noch wichtiger ist die Frage: wie in der Ewigkeit? womit will ich mich dort beschäftigen? Wer wird mein Gott und Fürsprecher seyn?
Der
Der 1ſte Junius.
ſchaften dampfen einen Nebel aus, der ſich meiſtens nur mit den Jahren legt: Greiſe im Lehnſtuhl ſehen am weitſten.
Die Ehre, dieſe Mahlzeit der Ohren, dis hitzige Getraͤnk fuͤr den Verſtand, wird Bejahrten am allermeiſten verwilligt. Wet ihnen Ehrfurcht verſagt, deſſen Ehre iſt bei allen Nationen vogel- frei. Ein weiſſes zitterndes Haupt bemaͤchtigt ſich des Beifalls mehr, als der breitſte Gnadenſtern. Der Greis wird ein Lan- desvater mit, und wofern etwas die menſchliche Eigenliebe ſaͤtti- gen kan, ſo iſt es das Anſehn, mit welchem demjenigen allent- halben begegnet wird, der uns als Augenzeuge das vorige Jahr- hundert ſchildern kan. Greiſe werden auch darin wie die Kinder, daß nur ein Barbar ihnen Leides thut.
Sonderlich aber bleibt das Sterben, dieſe Hauptwiſſenſchaft, welche rothwangigte Menſchen ſo ſchwer erlernen, nur halbe Ar- beit fuͤr die Ruinen der Vorwelt, die nach und nach zuſammen- fallen. Der Welt abſterben, heißt ſich dem Himmel naͤhern. Ueberraſchen kan der Tod den nicht, welchem die Natur zuruft: nun mußt du ſterben!
Waͤre es erlaubt, um irdiſche Guͤter feurig zu bitten: ſo wolte ich flehen: Herr! fodre mich ja nicht ehe von hinnen, als bis die Natur meinem Verſtande zu Huͤlfe komt, bis ich alt und lebensſatt zu meinen Vaͤtern verſamlet werde. Jedoch du, Hoͤch- ſter! theileſt deine Gaben nach unbegreiflichen Regeln aus. Ge- nug! ich ſehe, wenn du mir das Leben aus Gnaden friſteſt, (das heißt zugleich, wenn ich tugendhaft lebe) eine angenehme Aus- ſicht vor mir; um deſto angenehmer, je mehr ich kindiſcher Eigen- liebe und ſuͤndlicher Thorheiten beizeiten entſage. Die Frage iſt wichtig: wie werde ich im achzigſten Jahre geſinnet ſeyn? was werde ich denken? womit mich beſchaͤftigen? wer wird mein pfle- gender Freund ſeyn? Noch wichtiger iſt die Frage: wie in der Ewigkeit? womit will ich mich dort beſchaͤftigen? Wer wird mein Gott und Fuͤrſprecher ſeyn?
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[318[348]/0355]
Der 1ſte Junius.
ſchaften dampfen einen Nebel aus, der ſich meiſtens nur mit den
Jahren legt: Greiſe im Lehnſtuhl ſehen am weitſten.
Die Ehre, dieſe Mahlzeit der Ohren, dis hitzige Getraͤnk fuͤr
den Verſtand, wird Bejahrten am allermeiſten verwilligt. Wet
ihnen Ehrfurcht verſagt, deſſen Ehre iſt bei allen Nationen vogel-
frei. Ein weiſſes zitterndes Haupt bemaͤchtigt ſich des Beifalls
mehr, als der breitſte Gnadenſtern. Der Greis wird ein Lan-
desvater mit, und wofern etwas die menſchliche Eigenliebe ſaͤtti-
gen kan, ſo iſt es das Anſehn, mit welchem demjenigen allent-
halben begegnet wird, der uns als Augenzeuge das vorige Jahr-
hundert ſchildern kan. Greiſe werden auch darin wie die Kinder,
daß nur ein Barbar ihnen Leides thut.
Sonderlich aber bleibt das Sterben, dieſe Hauptwiſſenſchaft,
welche rothwangigte Menſchen ſo ſchwer erlernen, nur halbe Ar-
beit fuͤr die Ruinen der Vorwelt, die nach und nach zuſammen-
fallen. Der Welt abſterben, heißt ſich dem Himmel naͤhern.
Ueberraſchen kan der Tod den nicht, welchem die Natur zuruft:
nun mußt du ſterben!
Waͤre es erlaubt, um irdiſche Guͤter feurig zu bitten: ſo
wolte ich flehen: Herr! fodre mich ja nicht ehe von hinnen, als
bis die Natur meinem Verſtande zu Huͤlfe komt, bis ich alt und
lebensſatt zu meinen Vaͤtern verſamlet werde. Jedoch du, Hoͤch-
ſter! theileſt deine Gaben nach unbegreiflichen Regeln aus. Ge-
nug! ich ſehe, wenn du mir das Leben aus Gnaden friſteſt, (das
heißt zugleich, wenn ich tugendhaft lebe) eine angenehme Aus-
ſicht vor mir; um deſto angenehmer, je mehr ich kindiſcher Eigen-
liebe und ſuͤndlicher Thorheiten beizeiten entſage. Die Frage iſt
wichtig: wie werde ich im achzigſten Jahre geſinnet ſeyn? was
werde ich denken? womit mich beſchaͤftigen? wer wird mein pfle-
gender Freund ſeyn? Noch wichtiger iſt die Frage: wie in der
Ewigkeit? womit will ich mich dort beſchaͤftigen? Wer wird mein
Gott und Fuͤrſprecher ſeyn?
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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 318[348]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/355>, abgerufen am 21.11.2024.
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