Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775.Der 3te Junius. Wir werden an jenem Gerichtstage über unsre Mitgefährten er-staunen: dort, wo die Seele des Monarchen nicht mehr Ahnen hat, als die Seele des Bettlers. Darf uns ein Mensch wol jemals verächtlich seyn, welcher den Himmel erben kan? Aeus- serliche Achtung müssen wir der hohen Geburt, den grauen Haa- ren, den seidnen Kleidern und andern irdischen Vorzügen zollen; aber innere Hochachtung verdienet die Seele des Nächsten. Und sie verdienet sie um desto mehr, je weniger sie viehisch und irdisch gesinnet ist. Jede Nation ehret die Todten, und der schlechtste Leichnam Der Stolz gegen den Nächsten ist eins der abgeschmackte- Liebreicher Gott! haben schon Menschen über meine Hoffart Der
Der 3te Junius. Wir werden an jenem Gerichtstage uͤber unſre Mitgefaͤhrten er-ſtaunen: dort, wo die Seele des Monarchen nicht mehr Ahnen hat, als die Seele des Bettlers. Darf uns ein Menſch wol jemals veraͤchtlich ſeyn, welcher den Himmel erben kan? Aeuſ- ſerliche Achtung muͤſſen wir der hohen Geburt, den grauen Haa- ren, den ſeidnen Kleidern und andern irdiſchen Vorzuͤgen zollen; aber innere Hochachtung verdienet die Seele des Naͤchſten. Und ſie verdienet ſie um deſto mehr, je weniger ſie viehiſch und irdiſch geſinnet iſt. Jede Nation ehret die Todten, und der ſchlechtſte Leichnam Der Stolz gegen den Naͤchſten iſt eins der abgeſchmackte- Liebreicher Gott! haben ſchon Menſchen uͤber meine Hoffart Der
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Der 3te Junius.
Wir werden an jenem Gerichtstage uͤber unſre Mitgefaͤhrten er-
ſtaunen: dort, wo die Seele des Monarchen nicht mehr Ahnen
hat, als die Seele des Bettlers. Darf uns ein Menſch wol
jemals veraͤchtlich ſeyn, welcher den Himmel erben kan? Aeuſ-
ſerliche Achtung muͤſſen wir der hohen Geburt, den grauen Haa-
ren, den ſeidnen Kleidern und andern irdiſchen Vorzuͤgen zollen;
aber innere Hochachtung verdienet die Seele des Naͤchſten. Und
ſie verdienet ſie um deſto mehr, je weniger ſie viehiſch und irdiſch
geſinnet iſt.
Jede Nation ehret die Todten, und der ſchlechtſte Leichnam
heiſchet eine Art von Ehrfurcht. Wunderliches Verfahren!
Wir haben eine Achtung fuͤr Entſeelten, die wir bei ihrem Leben
nicht fuͤr ſie hatten, und ſchaͤtzen den verweſenden Staub ſo hoch,
daß wir uns uͤber ihm keine Suͤnde erlauben! Nun, ihr Armen!
ſo verberget euch denn in eure Schlafkammer. Jm Tode unter-
ſcheidet man euch doch von den Hunden, und ehret euer Grab-
mal. Man ehret euch alsdann wie Regenten, d. i. man fuͤrch-
tet ſich vor euch.
Der Stolz gegen den Naͤchſten iſt eins der abgeſchmackte-
ſten Laſter. Er ſetzt eine kindiſche Eigenliebe voraus, gruͤndet
ſich auf Vorurtheil und Unwiſſenheit, und erreichet ſeinen Zweck
niemals. Wer innig geehrt ſeyn will, darf es nicht abtrotzen,
ſondern muß es ſich durch Tugend und Verdienſte erwerben.
Liebreicher Gott! haben ſchon Menſchen uͤber meine Hoffart
zu dir hinaufgeſeufzet? — Ach! moͤgte ich dir doch aͤhnlich ſeyn,
mein Erloͤſer! Du erniedrigteſt dich ſelbſt, entſagteſt deiner Herr-
lichkeit, und wurdeſt fuͤr mich ein Knecht! Wie gnaͤdig iſt der
Himmel! Er ſtehet jedem offen, dem alle Vorſaͤle verſchloſſen
ſind. Du nenneſt, o Jeſu! die Armen deine Bruͤder: mir
darf alſo niemand fremde ſeyn. Jch will meinen Naͤchſten um
deinetwillen hochſchaͤtzen: denn im Himmel ſtelleſt du ihn vieleicht
neben mich.
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(2023-05-24T12:24:22Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, Linda Kirsten, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels
Weitere Informationen:Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
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