Einst werd ich das im Licht erkennen, Was ich auf Erden dunkel sah; Das wunderbar und heilig nennen, Was unerforschlich hier geschah: Da denkt mein Geist, mit Preis und Dunk, Die Schickung im Zusammenhang.
Wann ich nun todt bin, und Freunde meinen kalten Angst- schweiß abwischen, den sie mit heissen Thränen wieder an- feuchten; wann sie stumm um meinen Leichnam stehen, und mei- nen letzten Kampf denken; wann sie nun mein Sterbehemde su- chen, und Sarg, Grab und Verwesung ihr einziger Gedanke ist: alsdann schwingt sich mein triumphirender Geist zu seinem Ursprung, zur Quelle des Lebens, zu dir, mein Erhalter! Dann ist die Seligkeit mein Gnadengehalt; dann rollet der dunkle Erdball unter mir, und mich umfliesset der Himmel.
Aber wann meine Freunde, um ihr Wehklagen zu recht- fertigen, nichts als meine Tugenden denken: dann wäget der allwissende Richter auch das Gebürge meiner Fehler, und ich sinke -- ach! Herr Jesu! um deines Bluts, um meines auch noch so schwachen Glaubens willen, laß mich in dieser furch[unleserliches Material - 1 Zeichen fehlt]tba- ren Minute nicht fallen. Nein! ich werde durch deine Gerech- tigkeit leben und Gott schauen.
Meine Tugend, welche hier wie ein fremdes zartes Ge- wächs, bei der rauhen Erdluft so leicht verwelkte, oder bei zu vieler Sonne zusammenschrumpfte, wird dort in ihrer Heimat
ewig
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Der 4te Junius.
Einſt werd ich das im Licht erkennen, Was ich auf Erden dunkel ſah; Das wunderbar und heilig nennen, Was unerforſchlich hier geſchah: Da denkt mein Geiſt, mit Preis und Dunk, Die Schickung im Zuſammenhang.
Wann ich nun todt bin, und Freunde meinen kalten Angſt- ſchweiß abwiſchen, den ſie mit heiſſen Thraͤnen wieder an- feuchten; wann ſie ſtumm um meinen Leichnam ſtehen, und mei- nen letzten Kampf denken; wann ſie nun mein Sterbehemde ſu- chen, und Sarg, Grab und Verweſung ihr einziger Gedanke iſt: alsdann ſchwingt ſich mein triumphirender Geiſt zu ſeinem Urſprung, zur Quelle des Lebens, zu dir, mein Erhalter! Dann iſt die Seligkeit mein Gnadengehalt; dann rollet der dunkle Erdball unter mir, und mich umflieſſet der Himmel.
Aber wann meine Freunde, um ihr Wehklagen zu recht- fertigen, nichts als meine Tugenden denken: dann waͤget der allwiſſende Richter auch das Gebuͤrge meiner Fehler, und ich ſinke — ach! Herr Jeſu! um deines Bluts, um meines auch noch ſo ſchwachen Glaubens willen, laß mich in dieſer furch[unleserliches Material – 1 Zeichen fehlt]tba- ren Minute nicht fallen. Nein! ich werde durch deine Gerech- tigkeit leben und Gott ſchauen.
Meine Tugend, welche hier wie ein fremdes zartes Ge- waͤchs, bei der rauhen Erdluft ſo leicht verwelkte, oder bei zu vieler Sonne zuſammenſchrumpfte, wird dort in ihrer Heimat
ewig
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[323[353]/0360]
Der 4te Junius.
Einſt werd ich das im Licht erkennen,
Was ich auf Erden dunkel ſah;
Das wunderbar und heilig nennen,
Was unerforſchlich hier geſchah:
Da denkt mein Geiſt, mit Preis und Dunk,
Die Schickung im Zuſammenhang.
Wann ich nun todt bin, und Freunde meinen kalten Angſt-
ſchweiß abwiſchen, den ſie mit heiſſen Thraͤnen wieder an-
feuchten; wann ſie ſtumm um meinen Leichnam ſtehen, und mei-
nen letzten Kampf denken; wann ſie nun mein Sterbehemde ſu-
chen, und Sarg, Grab und Verweſung ihr einziger Gedanke
iſt: alsdann ſchwingt ſich mein triumphirender Geiſt zu ſeinem
Urſprung, zur Quelle des Lebens, zu dir, mein Erhalter! Dann
iſt die Seligkeit mein Gnadengehalt; dann rollet der dunkle
Erdball unter mir, und mich umflieſſet der Himmel.
Aber wann meine Freunde, um ihr Wehklagen zu recht-
fertigen, nichts als meine Tugenden denken: dann waͤget der
allwiſſende Richter auch das Gebuͤrge meiner Fehler, und ich
ſinke — ach! Herr Jeſu! um deines Bluts, um meines auch
noch ſo ſchwachen Glaubens willen, laß mich in dieſer furch_tba-
ren Minute nicht fallen. Nein! ich werde durch deine Gerech-
tigkeit leben und Gott ſchauen.
Meine Tugend, welche hier wie ein fremdes zartes Ge-
waͤchs, bei der rauhen Erdluft ſo leicht verwelkte, oder bei zu
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(2023-05-24T12:24:22Z)
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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 323[353]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/360>, abgerufen am 21.11.2024.
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