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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775.

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Der 4te Junius.
ewig blühen. Hier sah ich alles nur spannenweit und durch ge-
färbtes Glas: dort stehe ich am Quell der Warheit; ich sehe al-
les ich ergründe alles, nur den Unermeßlichen nicht. Jede Em-
pfindung wird deutliches nnd tiefes Erkentniß seyn. Meine
Freude an Gott, in welche sich hier so manche Zähre und Seuf-
zer mischten, wird dort ein natürlicher Trieb seyn: ich werde nicht
anders können als Gott loben. Wohlthaten, die mein Auge
nicht sah; lockende Gnade, welche mein sterbliches Ohr nicht
hört; des Erlösers Bruderliebe; (o! wie arm ist meine Spra-
che, daß ich keinen bessern Namen weiß!) sein Tod an meiner
statt; die ofne, für mich Seligkeit blutende Wunde; um mich
her nichts als Gottes Lobredner, und jeder mein Freund! (Ver-
zeihet, selige Geister! diesen zweideutigen Namen, die Erde hat
von eurer Freundschaft keinen Begrif.) Ewige Anbetung; him-
lisches Lob; feurigster Dank, der jede Wohlthat durchdenkt, die
mir, auch in meinen entferntesten Voreltern, in jeder Rede und
Handlung Jesu und seiner Freunde, die mir auch im Schlafe,
mir ungesehen und ungewußt, wiederfuhr; jeder Zug göttlicher
Erbarmung; jeder Wink, den mir Tugend und Religion gab:
alles das wird dort ein Jubelgesang seyn.

O! wie matt ist dagegen alle irdische Andacht! wie unge-
treu mein Gedächtniß! Könte ich wol sogleich hundert Wohltha-
ten Gottes hernennen? und doch sind ihrer mehr als des Sandes
am Gestade des Weltmeers! Jch will jetzt beten und danken:
aber der Schlaf drücket die Augenlieder, und Nacht, Mißver-
gnügen und Kleinmut den Geist. Jch schäme mich, vor dem
Throne des vollkommensten Wesens zu lallen. Jch fühle, daß
ich zum Lobe Gottes noch nicht mündig bin. Jch will also von
ferne treten, zur Erde blicken, und ein stiller Wunsch nach dem
Himmel soll jetzt mein Gebet seyn. Jedoch ein Blick in den Him-
mel ist die schönste Abendandacht. Und, Hüter! ist die Nacht
schier hin?

Der

Der 4te Junius.
ewig bluͤhen. Hier ſah ich alles nur ſpannenweit und durch ge-
faͤrbtes Glas: dort ſtehe ich am Quell der Warheit; ich ſehe al-
les ich ergruͤnde alles, nur den Unermeßlichen nicht. Jede Em-
pfindung wird deutliches nnd tiefes Erkentniß ſeyn. Meine
Freude an Gott, in welche ſich hier ſo manche Zaͤhre und Seuf-
zer miſchten, wird dort ein natuͤrlicher Trieb ſeyn: ich werde nicht
anders koͤnnen als Gott loben. Wohlthaten, die mein Auge
nicht ſah; lockende Gnade, welche mein ſterbliches Ohr nicht
hoͤrt; des Erloͤſers Bruderliebe; (o! wie arm iſt meine Spra-
che, daß ich keinen beſſern Namen weiß!) ſein Tod an meiner
ſtatt; die ofne, fuͤr mich Seligkeit blutende Wunde; um mich
her nichts als Gottes Lobredner, und jeder mein Freund! (Ver-
zeihet, ſelige Geiſter! dieſen zweideutigen Namen, die Erde hat
von eurer Freundſchaft keinen Begrif.) Ewige Anbetung; him-
liſches Lob; feurigſter Dank, der jede Wohlthat durchdenkt, die
mir, auch in meinen entfernteſten Voreltern, in jeder Rede und
Handlung Jeſu und ſeiner Freunde, die mir auch im Schlafe,
mir ungeſehen und ungewußt, wiederfuhr; jeder Zug goͤttlicher
Erbarmung; jeder Wink, den mir Tugend und Religion gab:
alles das wird dort ein Jubelgeſang ſeyn.

O! wie matt iſt dagegen alle irdiſche Andacht! wie unge-
treu mein Gedaͤchtniß! Koͤnte ich wol ſogleich hundert Wohltha-
ten Gottes hernennen? und doch ſind ihrer mehr als des Sandes
am Geſtade des Weltmeers! Jch will jetzt beten und danken:
aber der Schlaf druͤcket die Augenlieder, und Nacht, Mißver-
gnuͤgen und Kleinmut den Geiſt. Jch ſchaͤme mich, vor dem
Throne des vollkommenſten Weſens zu lallen. Jch fuͤhle, daß
ich zum Lobe Gottes noch nicht muͤndig bin. Jch will alſo von
ferne treten, zur Erde blicken, und ein ſtiller Wunſch nach dem
Himmel ſoll jetzt mein Gebet ſeyn. Jedoch ein Blick in den Him-
mel iſt die ſchoͤnſte Abendandacht. Und, Huͤter! iſt die Nacht
ſchier hin?

Der
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[324[354]/0361] Der 4te Junius. ewig bluͤhen. Hier ſah ich alles nur ſpannenweit und durch ge- faͤrbtes Glas: dort ſtehe ich am Quell der Warheit; ich ſehe al- les ich ergruͤnde alles, nur den Unermeßlichen nicht. Jede Em- pfindung wird deutliches nnd tiefes Erkentniß ſeyn. Meine Freude an Gott, in welche ſich hier ſo manche Zaͤhre und Seuf- zer miſchten, wird dort ein natuͤrlicher Trieb ſeyn: ich werde nicht anders koͤnnen als Gott loben. Wohlthaten, die mein Auge nicht ſah; lockende Gnade, welche mein ſterbliches Ohr nicht hoͤrt; des Erloͤſers Bruderliebe; (o! wie arm iſt meine Spra- che, daß ich keinen beſſern Namen weiß!) ſein Tod an meiner ſtatt; die ofne, fuͤr mich Seligkeit blutende Wunde; um mich her nichts als Gottes Lobredner, und jeder mein Freund! (Ver- zeihet, ſelige Geiſter! dieſen zweideutigen Namen, die Erde hat von eurer Freundſchaft keinen Begrif.) Ewige Anbetung; him- liſches Lob; feurigſter Dank, der jede Wohlthat durchdenkt, die mir, auch in meinen entfernteſten Voreltern, in jeder Rede und Handlung Jeſu und ſeiner Freunde, die mir auch im Schlafe, mir ungeſehen und ungewußt, wiederfuhr; jeder Zug goͤttlicher Erbarmung; jeder Wink, den mir Tugend und Religion gab: alles das wird dort ein Jubelgeſang ſeyn. O! wie matt iſt dagegen alle irdiſche Andacht! wie unge- treu mein Gedaͤchtniß! Koͤnte ich wol ſogleich hundert Wohltha- ten Gottes hernennen? und doch ſind ihrer mehr als des Sandes am Geſtade des Weltmeers! Jch will jetzt beten und danken: aber der Schlaf druͤcket die Augenlieder, und Nacht, Mißver- gnuͤgen und Kleinmut den Geiſt. Jch ſchaͤme mich, vor dem Throne des vollkommenſten Weſens zu lallen. Jch fuͤhle, daß ich zum Lobe Gottes noch nicht muͤndig bin. Jch will alſo von ferne treten, zur Erde blicken, und ein ſtiller Wunſch nach dem Himmel ſoll jetzt mein Gebet ſeyn. Jedoch ein Blick in den Him- mel iſt die ſchoͤnſte Abendandacht. Und, Huͤter! iſt die Nacht ſchier hin? Der

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




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Zitationshilfe: Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 324[354]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/361>, abgerufen am 21.11.2024.