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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775.

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Der 6te Junius.
denke man, in wie wenig Monaten sie den uns bekanten Ster-
nenhimmel durchfliegen! Da ihre Bewegung in einer länglichten
Runde geschiehet, und da einige sich nahe um unsre Sonne her-
umdrehen, und alsdann die ungeheure lange Laufbahn auf der
andern Seite wieder antreten: so ist zu vermuthen, daß sie sich
am Ende ihrer Bahn abermals um eine Sonne herumschwenken.
Diese letztere Sonne aber, wie schwindelnd weit muß sie nicht
von der unsrigen entfernet seyn! Und ist es wol wahrscheinlich,
daß diese Kluft öde und ohne Weltkörper sey? Jedoch, auch die-
ses ist vieleicht alles nur noch eine kleine Linie des von Gott mit
Welten besäeten Himmels. Und so hatten Kometen denn einen
unendlich wichtigern Auftrag, als die kriegerische Absicht eines
tollen Ministers, als Pest, oder gar Hoftrauer anzusagen.
Welch stolzer Unsinn war das!

Wie? wenn ich in der seligen Ewigkeit auf den Flügeln die-
ser schnellen Sterne den unermeßlichen Raum des Himmels durch-
wandelte, und gleichsam bei jedem Schritte tausend noch ungese-
hene Welten erblickte, wie ich jetzt über tausend Grashalmen
wegschreite! Wie wenn mein erhabner und scharfsichtiger Geist,
auf diesem englischen Fluge, in jeder Stadt Gottes neue Wunder
gewahr würde! Wenn aller Himmel, den hier ein bewafnetes
Auge erblickt, nur eine meiner kleinsten Reisen und Lectionen
wäre! Von unterrichtenden Engeln begleitet, schiesse ich, wie ein
Sonnenstral, von einem Throne, von einer Herrlichkeit Gottes
zur andern! Jch forsche ewig, und ewig entdecke ich neue Liebe
und Weisheit des Schöpfers, der immer neue Welten und Him-
mel für meinen lehrbegierigen Geist erschaffer! Um mich her tönen
Harmonien von Jubel und Anbetung empor! Um mich her? --
Ach! jetzt schnarchen und sündigen noch Teufel um mich her! O
Erde: welch ein Kerker bist du! Jetzt muß ich Sünden bereuen,
Schutz erflehen, gedankenlos schlafen! Aber Heil mir! bald spren-
get der Tod die Fesseln, und dann, Allerhöchster! lebe ich ganz!
nur für dich!

Der

Der 6te Junius.
denke man, in wie wenig Monaten ſie den uns bekanten Ster-
nenhimmel durchfliegen! Da ihre Bewegung in einer laͤnglichten
Runde geſchiehet, und da einige ſich nahe um unſre Sonne her-
umdrehen, und alsdann die ungeheure lange Laufbahn auf der
andern Seite wieder antreten: ſo iſt zu vermuthen, daß ſie ſich
am Ende ihrer Bahn abermals um eine Sonne herumſchwenken.
Dieſe letztere Sonne aber, wie ſchwindelnd weit muß ſie nicht
von der unſrigen entfernet ſeyn! Und iſt es wol wahrſcheinlich,
daß dieſe Kluft oͤde und ohne Weltkoͤrper ſey? Jedoch, auch die-
ſes iſt vieleicht alles nur noch eine kleine Linie des von Gott mit
Welten beſaͤeten Himmels. Und ſo hatten Kometen denn einen
unendlich wichtigern Auftrag, als die kriegeriſche Abſicht eines
tollen Miniſters, als Peſt, oder gar Hoftrauer anzuſagen.
Welch ſtolzer Unſinn war das!

Wie? wenn ich in der ſeligen Ewigkeit auf den Fluͤgeln die-
ſer ſchnellen Sterne den unermeßlichen Raum des Himmels durch-
wandelte, und gleichſam bei jedem Schritte tauſend noch ungeſe-
hene Welten erblickte, wie ich jetzt uͤber tauſend Grashalmen
wegſchreite! Wie wenn mein erhabner und ſcharfſichtiger Geiſt,
auf dieſem engliſchen Fluge, in jeder Stadt Gottes neue Wunder
gewahr wuͤrde! Wenn aller Himmel, den hier ein bewafnetes
Auge erblickt, nur eine meiner kleinſten Reiſen und Lectionen
waͤre! Von unterrichtenden Engeln begleitet, ſchieſſe ich, wie ein
Sonnenſtral, von einem Throne, von einer Herrlichkeit Gottes
zur andern! Jch forſche ewig, und ewig entdecke ich neue Liebe
und Weisheit des Schoͤpfers, der immer neue Welten und Him-
mel fuͤr meinen lehrbegierigen Geiſt erſchaffer! Um mich her toͤnen
Harmonien von Jubel und Anbetung empor! Um mich her? —
Ach! jetzt ſchnarchen und ſuͤndigen noch Teufel um mich her! O
Erde: welch ein Kerker biſt du! Jetzt muß ich Suͤnden bereuen,
Schutz erflehen, gedankenlos ſchlafen! Aber Heil mir! bald ſpren-
get der Tod die Feſſeln, und dann, Allerhoͤchſter! lebe ich ganz!
nur fuͤr dich!

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[328[358]/0365] Der 6te Junius. denke man, in wie wenig Monaten ſie den uns bekanten Ster- nenhimmel durchfliegen! Da ihre Bewegung in einer laͤnglichten Runde geſchiehet, und da einige ſich nahe um unſre Sonne her- umdrehen, und alsdann die ungeheure lange Laufbahn auf der andern Seite wieder antreten: ſo iſt zu vermuthen, daß ſie ſich am Ende ihrer Bahn abermals um eine Sonne herumſchwenken. Dieſe letztere Sonne aber, wie ſchwindelnd weit muß ſie nicht von der unſrigen entfernet ſeyn! Und iſt es wol wahrſcheinlich, daß dieſe Kluft oͤde und ohne Weltkoͤrper ſey? Jedoch, auch die- ſes iſt vieleicht alles nur noch eine kleine Linie des von Gott mit Welten beſaͤeten Himmels. Und ſo hatten Kometen denn einen unendlich wichtigern Auftrag, als die kriegeriſche Abſicht eines tollen Miniſters, als Peſt, oder gar Hoftrauer anzuſagen. Welch ſtolzer Unſinn war das! Wie? wenn ich in der ſeligen Ewigkeit auf den Fluͤgeln die- ſer ſchnellen Sterne den unermeßlichen Raum des Himmels durch- wandelte, und gleichſam bei jedem Schritte tauſend noch ungeſe- hene Welten erblickte, wie ich jetzt uͤber tauſend Grashalmen wegſchreite! Wie wenn mein erhabner und ſcharfſichtiger Geiſt, auf dieſem engliſchen Fluge, in jeder Stadt Gottes neue Wunder gewahr wuͤrde! Wenn aller Himmel, den hier ein bewafnetes Auge erblickt, nur eine meiner kleinſten Reiſen und Lectionen waͤre! Von unterrichtenden Engeln begleitet, ſchieſſe ich, wie ein Sonnenſtral, von einem Throne, von einer Herrlichkeit Gottes zur andern! Jch forſche ewig, und ewig entdecke ich neue Liebe und Weisheit des Schoͤpfers, der immer neue Welten und Him- mel fuͤr meinen lehrbegierigen Geiſt erſchaffer! Um mich her toͤnen Harmonien von Jubel und Anbetung empor! Um mich her? — Ach! jetzt ſchnarchen und ſuͤndigen noch Teufel um mich her! O Erde: welch ein Kerker biſt du! Jetzt muß ich Suͤnden bereuen, Schutz erflehen, gedankenlos ſchlafen! Aber Heil mir! bald ſpren- get der Tod die Feſſeln, und dann, Allerhoͤchſter! lebe ich ganz! nur fuͤr dich! Der

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




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Zitationshilfe: Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 328[358]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/365>, abgerufen am 21.11.2024.