Der Fromme weiß, wohin ihn die Tugend führet, nemlich am Ende in den Himmel: der Lasterhafte ist ein todter Körper, mit welchem die Wellen spielen; wer kan wissen, wo sie ihn anle- gen werden! Wenn uns doch mancher Leichenstein, statt seiner Pralerei, ein Geschlechtsregister der Laster lieferte! "Hier ruhet eine unglückliche Ehegattin, welche Gram und Verzweiflung über ihren harten und verschwenderischen Mann aufrieb." Aber höher herauf müßte auch gelesen werden: "aus Eigenliebe hörte sie die Schmeicheleien der Stutzer mit Liebäugeln an, und ward eine Buhlerin: ihr Gatte erfuhr es, und rächte sich." Nicht weit davon ist das kleine Grab zweier hofnungsvoller Kinder. O! stünde doch das Epitaphium darüber; "mich tödtete, ehe ich das Licht sah, die stolze Kleidertracht meiner Mutter: und mich tödtete um einige Jahre später ein innrer Brand, welchen mir die Völle- rei meines Vaters anerbte!"
So reden Gräber, oder so solten sie reden. Und fast jedes sieche Gesicht, jeder winselnde Laut beziehet sich auf eine zusam- menhängende Geschichte von Fehlern, die gleich gekollerten Schnee- bällen immer grösser wurden. Hör und sieh, verführtes Gemüth! wenn du nicht denken wilst. Aus Gefängnissen, Zuchthäusern, Galeeren und Spitälern fluchet, heulet, knirschet und keicht dir das Laster scheußlich entgegen, welches zehn Jahre früher vieleicht noch eine allerliebste kleine Unart war. -- O! ich will wachsam über mein Herz seyn. Hitzig wird es von Leidenschaften belagert, aber ich will durchaus von keiner Uebergabe hören. Gott! wäre ich doch unsträflich vor dir! Aber ich erlaubte mir vor Jahren eine verbotne Lust, und schon hat diese Wurzel einen breiten Stammbaum getrieben. Eine mich beschimpfende Ahnentafel! Wasch sie mit deinem Blute ab, zertrümmre, vertilg sie, o Jesu! Meine jetzige Empfindung müsse morgen tugendhafte Handlung, diese ein Schritt zu einer neuen, und so in fortlaufender Linie eine Grundlage von Millionen der Tugenden werden!
Der
Der 10te Junius.
Der Fromme weiß, wohin ihn die Tugend fuͤhret, nemlich am Ende in den Himmel: der Laſterhafte iſt ein todter Koͤrper, mit welchem die Wellen ſpielen; wer kan wiſſen, wo ſie ihn anle- gen werden! Wenn uns doch mancher Leichenſtein, ſtatt ſeiner Pralerei, ein Geſchlechtsregiſter der Laſter lieferte! „Hier ruhet eine ungluͤckliche Ehegattin, welche Gram und Verzweiflung uͤber ihren harten und verſchwenderiſchen Mann aufrieb.„ Aber hoͤher herauf muͤßte auch geleſen werden: „aus Eigenliebe hoͤrte ſie die Schmeicheleien der Stutzer mit Liebaͤugeln an, und ward eine Buhlerin: ihr Gatte erfuhr es, und raͤchte ſich.„ Nicht weit davon iſt das kleine Grab zweier hofnungsvoller Kinder. O! ſtuͤnde doch das Epitaphium daruͤber; „mich toͤdtete, ehe ich das Licht ſah, die ſtolze Kleidertracht meiner Mutter: und mich toͤdtete um einige Jahre ſpaͤter ein innrer Brand, welchen mir die Voͤlle- rei meines Vaters anerbte!„
So reden Graͤber, oder ſo ſolten ſie reden. Und faſt jedes ſieche Geſicht, jeder winſelnde Laut beziehet ſich auf eine zuſam- menhaͤngende Geſchichte von Fehlern, die gleich gekollerten Schnee- baͤllen immer groͤſſer wurden. Hoͤr und ſieh, verfuͤhrtes Gemuͤth! wenn du nicht denken wilſt. Aus Gefaͤngniſſen, Zuchthaͤuſern, Galeeren und Spitaͤlern fluchet, heulet, knirſchet und keicht dir das Laſter ſcheußlich entgegen, welches zehn Jahre fruͤher vieleicht noch eine allerliebſte kleine Unart war. — O! ich will wachſam uͤber mein Herz ſeyn. Hitzig wird es von Leidenſchaften belagert, aber ich will durchaus von keiner Uebergabe hoͤren. Gott! waͤre ich doch unſtraͤflich vor dir! Aber ich erlaubte mir vor Jahren eine verbotne Luſt, und ſchon hat dieſe Wurzel einen breiten Stammbaum getrieben. Eine mich beſchimpfende Ahnentafel! Waſch ſie mit deinem Blute ab, zertruͤmmre, vertilg ſie, o Jeſu! Meine jetzige Empfindung muͤſſe morgen tugendhafte Handlung, dieſe ein Schritt zu einer neuen, und ſo in fortlaufender Linie eine Grundlage von Millionen der Tugenden werden!
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Der 10te Junius.
Der Fromme weiß, wohin ihn die Tugend fuͤhret, nemlich
am Ende in den Himmel: der Laſterhafte iſt ein todter Koͤrper,
mit welchem die Wellen ſpielen; wer kan wiſſen, wo ſie ihn anle-
gen werden! Wenn uns doch mancher Leichenſtein, ſtatt ſeiner
Pralerei, ein Geſchlechtsregiſter der Laſter lieferte! „Hier ruhet
eine ungluͤckliche Ehegattin, welche Gram und Verzweiflung
uͤber ihren harten und verſchwenderiſchen Mann aufrieb.„ Aber
hoͤher herauf muͤßte auch geleſen werden: „aus Eigenliebe hoͤrte ſie
die Schmeicheleien der Stutzer mit Liebaͤugeln an, und ward eine
Buhlerin: ihr Gatte erfuhr es, und raͤchte ſich.„ Nicht weit
davon iſt das kleine Grab zweier hofnungsvoller Kinder. O! ſtuͤnde
doch das Epitaphium daruͤber; „mich toͤdtete, ehe ich das Licht
ſah, die ſtolze Kleidertracht meiner Mutter: und mich toͤdtete
um einige Jahre ſpaͤter ein innrer Brand, welchen mir die Voͤlle-
rei meines Vaters anerbte!„
So reden Graͤber, oder ſo ſolten ſie reden. Und faſt jedes
ſieche Geſicht, jeder winſelnde Laut beziehet ſich auf eine zuſam-
menhaͤngende Geſchichte von Fehlern, die gleich gekollerten Schnee-
baͤllen immer groͤſſer wurden. Hoͤr und ſieh, verfuͤhrtes Gemuͤth!
wenn du nicht denken wilſt. Aus Gefaͤngniſſen, Zuchthaͤuſern,
Galeeren und Spitaͤlern fluchet, heulet, knirſchet und keicht dir
das Laſter ſcheußlich entgegen, welches zehn Jahre fruͤher vieleicht
noch eine allerliebſte kleine Unart war. — O! ich will wachſam
uͤber mein Herz ſeyn. Hitzig wird es von Leidenſchaften belagert,
aber ich will durchaus von keiner Uebergabe hoͤren. Gott! waͤre
ich doch unſtraͤflich vor dir! Aber ich erlaubte mir vor Jahren
eine verbotne Luſt, und ſchon hat dieſe Wurzel einen breiten
Stammbaum getrieben. Eine mich beſchimpfende Ahnentafel!
Waſch ſie mit deinem Blute ab, zertruͤmmre, vertilg ſie, o Jeſu!
Meine jetzige Empfindung muͤſſe morgen tugendhafte Handlung,
dieſe ein Schritt zu einer neuen, und ſo in fortlaufender Linie eine
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Matthias Boenig, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Li Xang: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription.
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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 336[366]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/373>, abgerufen am 21.11.2024.
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