Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775.Der 11te Junius. Wohl dir, o Tugendfreund! daß droben Nicht Menschen tadeln, Menschen loben: Das blinde Volk versteht es nicht. Es sieht nur durch Vergrößrungsgläser, Die man für seinen Jrthum schleift! Es rühmet was als Zeitungsleser, Und schimpft auf das, was nicht in seinem Treibhaus reift. Nichts ist unsichrer, als die Rangordnung, welche Men- "Obenan stehe ich selbst. Alle Menschen, die ich kenne, &q;Pöbel Tiedens Abendand. I. Th. Y
Der 11te Junius. Wohl dir, o Tugendfreund! daß droben Nicht Menſchen tadeln, Menſchen loben: Das blinde Volk verſteht es nicht. Es ſieht nur durch Vergroͤßrungsglaͤſer, Die man fuͤr ſeinen Jrthum ſchleift! Es ruͤhmet was als Zeitungsleſer, Und ſchimpft auf das, was nicht in ſeinem Treibhaus reift. Nichts iſt unſichrer, als die Rangordnung, welche Men- „Obenan ſtehe ich ſelbſt. Alle Menſchen, die ich kenne, &q;Poͤbel Tiedens Abendand. I. Th. Y
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Der 11te Junius.
Wohl dir, o Tugendfreund! daß droben
Nicht Menſchen tadeln, Menſchen loben:
Das blinde Volk verſteht es nicht.
Es ſieht nur durch Vergroͤßrungsglaͤſer,
Die man fuͤr ſeinen Jrthum ſchleift!
Es ruͤhmet was als Zeitungsleſer,
Und ſchimpft auf das, was nicht in ſeinem Treibhaus reift.
Nichts iſt unſichrer, als die Rangordnung, welche Men-
ſchen unter einander machen. Fuͤr Geld, Schmeicheleien
und Frohndienſte kan man ſich hoch bei ihnen anbringen. Aber
Eine unehrerbietige Miene, Eine verſagte Dienſtleiſtung ſetzen
auch wieder ſehr tief herab. Die Rangliſte eines ſinnlichen
Menſchen lautet etwa folgendermaſſen:
„Obenan ſtehe ich ſelbſt. Alle Menſchen, die ich kenne,
&q;haben ſo viele Fehler, daß ſie mir dieſen Ort nicht ſtreitig ma-
&q;chen koͤnnen. Den zweiten Platz weiſe ich denen an, welche
&q;das Gluͤck haben, meine Freunde und Anverwandten zu ſeyn.
&q;Jn dieſer Rubrick muß auch wol das Schoßhuͤndchen geſetzt
&q;werden; denn drittens kommen ſchon diejenigen, die fuͤr mich
&q;arbeiten. Die vierte Stelle gehoͤret wol den Maͤchtigen, welche
&q;mir etwas geben oder nehmen koͤnnen. Vom fuͤnften Range
&q;ſollen die ſeyn, welche mich beluſtigen und verfuͤhren koͤnnen. An
&q;ſie ſchlieſſen ſich erfahrne Greiſe, Obrigkeit und Lehrer an, wofern
&q;ſie mir nicht unangenehme Dinge ſagen; denn ſonſt ſtoſſe ich ſie
&q;zuruͤck. Jn den ſechſten Raum werfe ich — ſie taugen alle
&q;nichts! Jedoch, Ordnung muß ſeyn. Seidene Kleider gehen
&q;alſo vorauf; ſind ſie mit Gold beſetzt: deſto beſſer! dann iſt ihr
&q;Werth entſchieden. Ein ſchoͤnes Geſicht, vornehme Geburt,
&q;und jeder, der gleich dem Teufel ſchaden kan, muͤſſen doch auch dem
&q;Poͤbel
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(2023-05-24T12:24:22Z)
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Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, Linda Kirsten, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels
Weitere Informationen:Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
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