Wenn Kinder bei ihren Spielen einen König erwählen: so ist das nicht mehr belächlenswerth, als wenn wir Alten zusammen- kommen und blos Leben spielen. Sie sind Kinder und wir sind Sterbende. Jhr königlicher Stand nimt ein trauriges Ende, wenn die Eltern, der dabei zerrißnen Kleider wegen schelten: und wann gehen funfzigjährige Kinder auseinander, daß nicht Herz- klopfen, Schwindel und Uebelkeit einem oder dem andern, wegen seiner dummdreisten Hofnung auf Leben schölte? Aber so ist es: Eine lange bunte Reihe sitzet an der Tafel, und frischet sich die hin und wieder schon sterbenden Gesichter mit Wein und Scher- zen auf. Vor ihnen in den Schüsseln lieget der Tod, und alles was vor ihnen stehet, ist seinem Untergange nahe; sie selbst müs- sen vermuthen, daß nach etlichen hundert Tagen Einer von ihnen nicht mehr sey: aber ihr ganzes Gefühl ist nichts als Leben. Tod wäre ihnen ein schrecklicher Gedanke. Und warum das? Jst es denn so fürchterlich, alle Abend unsre Kleider auszuziehen? oder täglich von Leichnamen zu leben? Und bei guter Bekantschaft mit dem Tode, oder der Religion, ist unser Sterben nur eine Ver- wechselung der Kleider. Wir legen den schmutzigen Regenrock ab, und werden herrlich überkleidet. Der letzte Othem ist das Signal zum ewigen Leben.
Mein Gott! bei dir nur ist Leben: auf der Erde sind Dornen und Tod. Vergib mir, daß ich so wenig nach jener nähern Verbin- dung mit dir verlange! Und wäre meine Furcht vor dem Tode gar heimlicher Unglaube an deine Verheissungen: ach! so erleuchte doch meinen Verstand, daß ich Gnade sehen möge, wo Fleisch und Blut über Gewalt schreiet! Jch wandre ja nun schon lange genug auf diesem Todtenacker umher. Hin und wieder ein goldnes Epita- phum, eine zierlich geschnitzte Bildsäule, eine gemahlte Decke, Wer- muth, Epheu, ein säuselnder Lindenbaum! -- Schön genug für Sünder: aber du, o Jesu! hast mir das Paradies versprochen; und das vermisse ich doch hier; und dazu will ich mich bereit halten, um des dortigen wahren Lebens fähig zu seyn. Gib mir dazu deinen Segen!
Der
2
Der 13te Junius.
Wenn Kinder bei ihren Spielen einen Koͤnig erwaͤhlen: ſo iſt das nicht mehr belaͤchlenswerth, als wenn wir Alten zuſammen- kommen und blos Leben ſpielen. Sie ſind Kinder und wir ſind Sterbende. Jhr koͤniglicher Stand nimt ein trauriges Ende, wenn die Eltern, der dabei zerrißnen Kleider wegen ſchelten: und wann gehen funfzigjaͤhrige Kinder auseinander, daß nicht Herz- klopfen, Schwindel und Uebelkeit einem oder dem andern, wegen ſeiner dummdreiſten Hofnung auf Leben ſchoͤlte? Aber ſo iſt es: Eine lange bunte Reihe ſitzet an der Tafel, und friſchet ſich die hin und wieder ſchon ſterbenden Geſichter mit Wein und Scher- zen auf. Vor ihnen in den Schuͤſſeln lieget der Tod, und alles was vor ihnen ſtehet, iſt ſeinem Untergange nahe; ſie ſelbſt muͤſ- ſen vermuthen, daß nach etlichen hundert Tagen Einer von ihnen nicht mehr ſey: aber ihr ganzes Gefuͤhl iſt nichts als Leben. Tod waͤre ihnen ein ſchrecklicher Gedanke. Und warum das? Jſt es denn ſo fuͤrchterlich, alle Abend unſre Kleider auszuziehen? oder taͤglich von Leichnamen zu leben? Und bei guter Bekantſchaft mit dem Tode, oder der Religion, iſt unſer Sterben nur eine Ver- wechſelung der Kleider. Wir legen den ſchmutzigen Regenrock ab, und werden herrlich uͤberkleidet. Der letzte Othem iſt das Signal zum ewigen Leben.
Mein Gott! bei dir nur iſt Leben: auf der Erde ſind Dornen und Tod. Vergib mir, daß ich ſo wenig nach jener naͤhern Verbin- dung mit dir verlange! Und waͤre meine Furcht vor dem Tode gar heimlicher Unglaube an deine Verheiſſungen: ach! ſo erleuchte doch meinen Verſtand, daß ich Gnade ſehen moͤge, wo Fleiſch und Blut uͤber Gewalt ſchreiet! Jch wandre ja nun ſchon lange genug auf dieſem Todtenacker umher. Hin und wieder ein goldnes Epita- phum, eine zierlich geſchnitzte Bildſaͤule, eine gemahlte Decke, Wer- muth, Epheu, ein ſaͤuſelnder Lindenbaum! — Schoͤn genug fuͤr Suͤnder: aber du, o Jeſu! haſt mir das Paradies verſprochen; und das vermiſſe ich doch hier; und dazu will ich mich bereit halten, um des dortigen wahren Lebens faͤhig zu ſeyn. Gib mir dazu deinen Segen!
Der
2
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><pbfacs="#f0379"n="342[372]"/><fwplace="top"type="header">Der 13<hirendition="#sup">te</hi> Junius.</fw><lb/><p>Wenn Kinder bei ihren Spielen einen Koͤnig erwaͤhlen: ſo iſt<lb/>
das nicht mehr belaͤchlenswerth, als wenn wir Alten zuſammen-<lb/>
kommen und blos Leben ſpielen. Sie ſind Kinder und wir ſind<lb/>
Sterbende. Jhr koͤniglicher Stand nimt ein trauriges Ende,<lb/>
wenn die Eltern, der dabei zerrißnen Kleider wegen ſchelten: und<lb/>
wann gehen funfzigjaͤhrige Kinder auseinander, daß nicht Herz-<lb/>
klopfen, Schwindel und Uebelkeit einem oder dem andern, wegen<lb/>ſeiner dummdreiſten Hofnung auf Leben ſchoͤlte? Aber ſo iſt es:<lb/>
Eine lange bunte Reihe ſitzet an der Tafel, und friſchet ſich die<lb/>
hin und wieder ſchon ſterbenden Geſichter mit Wein und Scher-<lb/>
zen auf. Vor ihnen in den Schuͤſſeln lieget der Tod, und alles<lb/>
was vor ihnen ſtehet, iſt ſeinem Untergange nahe; ſie ſelbſt muͤſ-<lb/>ſen vermuthen, daß nach etlichen hundert Tagen Einer von ihnen<lb/>
nicht mehr ſey: aber ihr ganzes Gefuͤhl iſt nichts als Leben. Tod<lb/>
waͤre ihnen ein ſchrecklicher Gedanke. Und warum das? Jſt es<lb/>
denn ſo fuͤrchterlich, alle Abend unſre Kleider auszuziehen? oder<lb/>
taͤglich von Leichnamen zu leben? Und bei guter Bekantſchaft mit<lb/>
dem Tode, oder der Religion, iſt unſer Sterben nur eine Ver-<lb/>
wechſelung der Kleider. Wir legen den ſchmutzigen Regenrock<lb/>
ab, und werden herrlich uͤberkleidet. Der letzte Othem iſt das<lb/>
Signal zum ewigen Leben.</p><lb/><p>Mein Gott! bei dir nur iſt Leben: auf der Erde ſind Dornen<lb/>
und Tod. Vergib mir, daß ich ſo wenig nach jener naͤhern Verbin-<lb/>
dung mit dir verlange! Und waͤre meine Furcht vor dem Tode gar<lb/>
heimlicher Unglaube an deine Verheiſſungen: ach! ſo erleuchte doch<lb/>
meinen Verſtand, daß ich Gnade ſehen moͤge, wo Fleiſch und Blut<lb/>
uͤber Gewalt ſchreiet! Jch wandre ja nun ſchon lange genug auf<lb/>
dieſem Todtenacker umher. Hin und wieder ein goldnes Epita-<lb/>
phum, eine zierlich geſchnitzte Bildſaͤule, eine gemahlte Decke, Wer-<lb/>
muth, Epheu, ein ſaͤuſelnder Lindenbaum! — Schoͤn genug fuͤr<lb/>
Suͤnder: aber du, o Jeſu! haſt mir das Paradies verſprochen; und<lb/>
das vermiſſe ich doch hier; und dazu will ich mich bereit halten, um<lb/>
des dortigen wahren Lebens faͤhig zu ſeyn. Gib mir dazu deinen<lb/>
Segen!</p></div><lb/><fwplace="bottom"type="sig">2</fw><fwplace="bottom"type="catch">Der</fw><lb/></div></div></body></text></TEI>
[342[372]/0379]
Der 13te Junius.
Wenn Kinder bei ihren Spielen einen Koͤnig erwaͤhlen: ſo iſt
das nicht mehr belaͤchlenswerth, als wenn wir Alten zuſammen-
kommen und blos Leben ſpielen. Sie ſind Kinder und wir ſind
Sterbende. Jhr koͤniglicher Stand nimt ein trauriges Ende,
wenn die Eltern, der dabei zerrißnen Kleider wegen ſchelten: und
wann gehen funfzigjaͤhrige Kinder auseinander, daß nicht Herz-
klopfen, Schwindel und Uebelkeit einem oder dem andern, wegen
ſeiner dummdreiſten Hofnung auf Leben ſchoͤlte? Aber ſo iſt es:
Eine lange bunte Reihe ſitzet an der Tafel, und friſchet ſich die
hin und wieder ſchon ſterbenden Geſichter mit Wein und Scher-
zen auf. Vor ihnen in den Schuͤſſeln lieget der Tod, und alles
was vor ihnen ſtehet, iſt ſeinem Untergange nahe; ſie ſelbſt muͤſ-
ſen vermuthen, daß nach etlichen hundert Tagen Einer von ihnen
nicht mehr ſey: aber ihr ganzes Gefuͤhl iſt nichts als Leben. Tod
waͤre ihnen ein ſchrecklicher Gedanke. Und warum das? Jſt es
denn ſo fuͤrchterlich, alle Abend unſre Kleider auszuziehen? oder
taͤglich von Leichnamen zu leben? Und bei guter Bekantſchaft mit
dem Tode, oder der Religion, iſt unſer Sterben nur eine Ver-
wechſelung der Kleider. Wir legen den ſchmutzigen Regenrock
ab, und werden herrlich uͤberkleidet. Der letzte Othem iſt das
Signal zum ewigen Leben.
Mein Gott! bei dir nur iſt Leben: auf der Erde ſind Dornen
und Tod. Vergib mir, daß ich ſo wenig nach jener naͤhern Verbin-
dung mit dir verlange! Und waͤre meine Furcht vor dem Tode gar
heimlicher Unglaube an deine Verheiſſungen: ach! ſo erleuchte doch
meinen Verſtand, daß ich Gnade ſehen moͤge, wo Fleiſch und Blut
uͤber Gewalt ſchreiet! Jch wandre ja nun ſchon lange genug auf
dieſem Todtenacker umher. Hin und wieder ein goldnes Epita-
phum, eine zierlich geſchnitzte Bildſaͤule, eine gemahlte Decke, Wer-
muth, Epheu, ein ſaͤuſelnder Lindenbaum! — Schoͤn genug fuͤr
Suͤnder: aber du, o Jeſu! haſt mir das Paradies verſprochen; und
das vermiſſe ich doch hier; und dazu will ich mich bereit halten, um
des dortigen wahren Lebens faͤhig zu ſeyn. Gib mir dazu deinen
Segen!
Der
2
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
Weitere Informationen …
Matthias Boenig, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Li Xang: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription.
(2023-05-24T12:24:22Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 342[372]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/379>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.