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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775.

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Der 14te Junius.
Thor! schätze nicht den Werth der Dinge
Nach Eigennutz und Phantasie!
Dir scheint manch göttlich Werk geringe:
Und Engel beugen ihre Knie!


Wenn die Spinne gediegne Goldfäden spänne, die Kröte Per-
len bei sich führte, und das Heidekraut Runzeln glättete:
so würde kein Mensch fragen: was sollen sie? Aber ist es nicht
eine höchst unverschämte Tare, wenn wir so eigennützige Be-
obachter der Werke Gottes
sind? Die schön punktirte
Raupe ist doch wol nicht häßlicher als der Seidenwurm? Was
kan die Mücke für ihren Stachel, und die Wespe dafür, daß ihr
die Kunst Honig zu samlen nicht angeboren ist? Jhre Geschick-
lichkeit in der Baukunst ist so groß, als der Bienen ihre. Und nur
Geduld! Apotheken und Manufakturen suchen jetzt schon manches
auf, was man vor einigen hundert Jahren noch mit Füßen trat.

Freilich müssen uns nützliche Geschöpfe angenehmer seyn,
als schädliche. Aber wir solten gegen letzte doch nur vertheidi-
gungsweise gehen; nicht aber wie Furien, und ohne Noth sie an-
greifen. Sie tragen doch immer das Gepräge ihres Schöpfers,
und der Naturforscher entdecket nicht selten an ihnen bewunderns-
werthe Eigenschaften, welche er bei unsern geliebten Thieren nicht
antrift. Aber wir lassen doch auch in manchen Fällen von un-
serm Eigensinne nach. Die Tulpe hat weder Geruch noch Nu-
tzen, und wir schätzen sie doch; und das um desto mehr, je krän-
ker und buntfarbiger sie wird. Denn was wir ihre Schönheit
nennen, ist ihre Unvollkommenheit. Was bei Menschen graue
Haare sind, das werden bei ihnen gelbe, weisse oder schwarze

Streifen.
Y 4


Der 14te Junius.
Thor! ſchaͤtze nicht den Werth der Dinge
Nach Eigennutz und Phantaſie!
Dir ſcheint manch goͤttlich Werk geringe:
Und Engel beugen ihre Knie!


Wenn die Spinne gediegne Goldfaͤden ſpaͤnne, die Kroͤte Per-
len bei ſich fuͤhrte, und das Heidekraut Runzeln glaͤttete:
ſo wuͤrde kein Menſch fragen: was ſollen ſie? Aber iſt es nicht
eine hoͤchſt unverſchaͤmte Tare, wenn wir ſo eigennuͤtzige Be-
obachter der Werke Gottes
ſind? Die ſchoͤn punktirte
Raupe iſt doch wol nicht haͤßlicher als der Seidenwurm? Was
kan die Muͤcke fuͤr ihren Stachel, und die Weſpe dafuͤr, daß ihr
die Kunſt Honig zu ſamlen nicht angeboren iſt? Jhre Geſchick-
lichkeit in der Baukunſt iſt ſo groß, als der Bienen ihre. Und nur
Geduld! Apotheken und Manufakturen ſuchen jetzt ſchon manches
auf, was man vor einigen hundert Jahren noch mit Fuͤßen trat.

Freilich muͤſſen uns nuͤtzliche Geſchoͤpfe angenehmer ſeyn,
als ſchaͤdliche. Aber wir ſolten gegen letzte doch nur vertheidi-
gungsweiſe gehen; nicht aber wie Furien, und ohne Noth ſie an-
greifen. Sie tragen doch immer das Gepraͤge ihres Schoͤpfers,
und der Naturforſcher entdecket nicht ſelten an ihnen bewunderns-
werthe Eigenſchaften, welche er bei unſern geliebten Thieren nicht
antrift. Aber wir laſſen doch auch in manchen Faͤllen von un-
ſerm Eigenſinne nach. Die Tulpe hat weder Geruch noch Nu-
tzen, und wir ſchaͤtzen ſie doch; und das um deſto mehr, je kraͤn-
ker und buntfarbiger ſie wird. Denn was wir ihre Schoͤnheit
nennen, iſt ihre Unvollkommenheit. Was bei Menſchen graue
Haare ſind, das werden bei ihnen gelbe, weiſſe oder ſchwarze

Streifen.
Y 4
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[343[373]/0380] Der 14te Junius. Thor! ſchaͤtze nicht den Werth der Dinge Nach Eigennutz und Phantaſie! Dir ſcheint manch goͤttlich Werk geringe: Und Engel beugen ihre Knie! Wenn die Spinne gediegne Goldfaͤden ſpaͤnne, die Kroͤte Per- len bei ſich fuͤhrte, und das Heidekraut Runzeln glaͤttete: ſo wuͤrde kein Menſch fragen: was ſollen ſie? Aber iſt es nicht eine hoͤchſt unverſchaͤmte Tare, wenn wir ſo eigennuͤtzige Be- obachter der Werke Gottes ſind? Die ſchoͤn punktirte Raupe iſt doch wol nicht haͤßlicher als der Seidenwurm? Was kan die Muͤcke fuͤr ihren Stachel, und die Weſpe dafuͤr, daß ihr die Kunſt Honig zu ſamlen nicht angeboren iſt? Jhre Geſchick- lichkeit in der Baukunſt iſt ſo groß, als der Bienen ihre. Und nur Geduld! Apotheken und Manufakturen ſuchen jetzt ſchon manches auf, was man vor einigen hundert Jahren noch mit Fuͤßen trat. Freilich muͤſſen uns nuͤtzliche Geſchoͤpfe angenehmer ſeyn, als ſchaͤdliche. Aber wir ſolten gegen letzte doch nur vertheidi- gungsweiſe gehen; nicht aber wie Furien, und ohne Noth ſie an- greifen. Sie tragen doch immer das Gepraͤge ihres Schoͤpfers, und der Naturforſcher entdecket nicht ſelten an ihnen bewunderns- werthe Eigenſchaften, welche er bei unſern geliebten Thieren nicht antrift. Aber wir laſſen doch auch in manchen Faͤllen von un- ſerm Eigenſinne nach. Die Tulpe hat weder Geruch noch Nu- tzen, und wir ſchaͤtzen ſie doch; und das um deſto mehr, je kraͤn- ker und buntfarbiger ſie wird. Denn was wir ihre Schoͤnheit nennen, iſt ihre Unvollkommenheit. Was bei Menſchen graue Haare ſind, das werden bei ihnen gelbe, weiſſe oder ſchwarze Streifen. Y 4

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




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Zitationshilfe: Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 343[373]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/380>, abgerufen am 24.11.2024.