Ein Gebet um nene Stärke, Zur Vollendung edler Worke, Theilt die Wolken, dringt zum Herrn, Und der Herr erhört es gern.
So hör denn mein ernstliches Gebet um neue Stärke zur Tugend, du Gott! der gern erhört. Mein Körper ist jetzo träge, aber vielmehr ist es noch meine Seele. Jch bin matt, wie ein genesender Kranke, so bald es auf gewisse Pflichten des Christenthums ankomt. Wenn du nicht unterstützest, so sinken meine Hände in den Schooß. Welches war heute wol die Tugend, bei der ich mich selbst überwand?
Einige tugendhafte Handlungen kosten Geld: andre Mühe. Eins aber wollen die Menschen nur immer daran wenden: daher bleiben ihre Tugenden Stückwerk. Entweder man giebt die Al- mosen gern, nur müssen sie andre überbringen: oder man unter- hält sich viel mit den Armen, gibt ihnen aber niemals über einen Pfennig. Einer bekleidet den Altar, besucht ihn aber nur beim heitersten Wetter im Jahre: der andre verfehlt keinen Gottes- dienst, schüttet aber lieber für seinen verschwendrischen Sohn auf, als daß ein Thaler zum Behuf der verfallenden Kirche oder hun- gernden Schullehrer gemisset werden könte. Jedoch, die Tugend hat noch mehr Klippen um sich her, an welchen ein Unvorsichti- ger scheitert. Eine übel verstandne Ehre macht in unsern Tagen manchen Christen lau. Man wolte Gott wol dienen: nur nicht öffentlich! das heilige Abendmal wol geniessen: aber nicht mit dem Pöbel vermischt; man will Jesum für die Quelle des Heils erkennen: nur der Hof muß es nicht erfahren. Noch ein andrer streitender Christ fürchtet und liebet seine Gesundheit über alle
Dinge.
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Der 15te Junius.
Ein Gebet um nene Staͤrke, Zur Vollendung edler Worke, Theilt die Wolken, dringt zum Herrn, Und der Herr erhoͤrt es gern.
So hoͤr denn mein ernſtliches Gebet um neue Staͤrke zur Tugend, du Gott! der gern erhoͤrt. Mein Koͤrper iſt jetzo traͤge, aber vielmehr iſt es noch meine Seele. Jch bin matt, wie ein geneſender Kranke, ſo bald es auf gewiſſe Pflichten des Chriſtenthums ankomt. Wenn du nicht unterſtuͤtzeſt, ſo ſinken meine Haͤnde in den Schooß. Welches war heute wol die Tugend, bei der ich mich ſelbſt uͤberwand?
Einige tugendhafte Handlungen koſten Geld: andre Muͤhe. Eins aber wollen die Menſchen nur immer daran wenden: daher bleiben ihre Tugenden Stuͤckwerk. Entweder man giebt die Al- moſen gern, nur muͤſſen ſie andre uͤberbringen: oder man unter- haͤlt ſich viel mit den Armen, gibt ihnen aber niemals uͤber einen Pfennig. Einer bekleidet den Altar, beſucht ihn aber nur beim heiterſten Wetter im Jahre: der andre verfehlt keinen Gottes- dienſt, ſchuͤttet aber lieber fuͤr ſeinen verſchwendriſchen Sohn auf, als daß ein Thaler zum Behuf der verfallenden Kirche oder hun- gernden Schullehrer gemiſſet werden koͤnte. Jedoch, die Tugend hat noch mehr Klippen um ſich her, an welchen ein Unvorſichti- ger ſcheitert. Eine uͤbel verſtandne Ehre macht in unſern Tagen manchen Chriſten lau. Man wolte Gott wol dienen: nur nicht oͤffentlich! das heilige Abendmal wol genieſſen: aber nicht mit dem Poͤbel vermiſcht; man will Jeſum fuͤr die Quelle des Heils erkennen: nur der Hof muß es nicht erfahren. Noch ein andrer ſtreitender Chriſt fuͤrchtet und liebet ſeine Geſundheit uͤber alle
Dinge.
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[345[375]/0382]
Der 15te Junius.
Ein Gebet um nene Staͤrke,
Zur Vollendung edler Worke,
Theilt die Wolken, dringt zum Herrn,
Und der Herr erhoͤrt es gern.
So hoͤr denn mein ernſtliches Gebet um neue Staͤrke
zur Tugend, du Gott! der gern erhoͤrt. Mein Koͤrper
iſt jetzo traͤge, aber vielmehr iſt es noch meine Seele. Jch bin
matt, wie ein geneſender Kranke, ſo bald es auf gewiſſe Pflichten
des Chriſtenthums ankomt. Wenn du nicht unterſtuͤtzeſt, ſo
ſinken meine Haͤnde in den Schooß. Welches war heute wol die
Tugend, bei der ich mich ſelbſt uͤberwand?
Einige tugendhafte Handlungen koſten Geld: andre Muͤhe.
Eins aber wollen die Menſchen nur immer daran wenden: daher
bleiben ihre Tugenden Stuͤckwerk. Entweder man giebt die Al-
moſen gern, nur muͤſſen ſie andre uͤberbringen: oder man unter-
haͤlt ſich viel mit den Armen, gibt ihnen aber niemals uͤber einen
Pfennig. Einer bekleidet den Altar, beſucht ihn aber nur beim
heiterſten Wetter im Jahre: der andre verfehlt keinen Gottes-
dienſt, ſchuͤttet aber lieber fuͤr ſeinen verſchwendriſchen Sohn auf,
als daß ein Thaler zum Behuf der verfallenden Kirche oder hun-
gernden Schullehrer gemiſſet werden koͤnte. Jedoch, die Tugend
hat noch mehr Klippen um ſich her, an welchen ein Unvorſichti-
ger ſcheitert. Eine uͤbel verſtandne Ehre macht in unſern Tagen
manchen Chriſten lau. Man wolte Gott wol dienen: nur nicht
oͤffentlich! das heilige Abendmal wol genieſſen: aber nicht mit
dem Poͤbel vermiſcht; man will Jeſum fuͤr die Quelle des Heils
erkennen: nur der Hof muß es nicht erfahren. Noch ein andrer
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Matthias Boenig, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Li Xang: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription.
(2023-05-24T12:24:22Z)
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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 345[375]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/382>, abgerufen am 21.11.2024.
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