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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775.

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Der 17te Junius.
Wer kan die Pracht
Von deinen Wundern fassen?
Ein jeder Staub, den du hast werden lassen,
Verkündigt Schöpfer! deine Macht.
Der kleinste Halm
Jst deiner Weisheit Spiegel.
Du, Luft und Meer! ihr, Auen, Thal und Hügel!
Jhr seyd sein Loblied und sein Psalm.


Da liegt nun der von seinen Freunden verlaßne blühende Gar-
ten, von rauhen Lüften durchschauert und jetzt ein Horst für
Ungeziefer! Aber ich will ihn noch jetzt mit meinen besten Gedan-
ken besuchen; mich nachdenkend an das Blumenbeet stellen
und Gott loben.

Die tausendfach spielende Farben, verschieden in ihrer Art
und doch gleich schön! Die sanfte Verschmelzung jeder Farbe in
die andre! Unnachahmliche Streifen, Pünktchen und Schattie-
rungen! Welche süsse Wohlgerüche duftete auch das kleinste
Blümchen umher! das alles empfand ich. Aber fühlte ich auch wol
den grossen Gedanken: daß der Urheber so vieler Schönheiten dis
alles nicht für sich schuf, und daß er meiner, um dessentwillen er
sie schuf, nicht bedarf? Versank ich in diesen Abgrund von Güte,
oder sah ich auf die bescheidne Blumen, mit weniger Rührung, mit
geringerm Beifall herab, als auf das stolzschimmernde Gewebe
des Seidenwurms, das einen vornehmen Lasterknecht deckte?

Welch ein Rang, auch im Blumenreiche! Von der hohen
Lilie bis zum demütigen Veilchen ist alles schön. Mensch! füll dein
Fach aus, und schränk dich, ohne Neid oder Verachtung, auf
deinen Posten ein: so ehrest du die Wege der Vorsicht, und findest

in


Der 17te Junius.
Wer kan die Pracht
Von deinen Wundern faſſen?
Ein jeder Staub, den du haſt werden laſſen,
Verkuͤndigt Schoͤpfer! deine Macht.
Der kleinſte Halm
Jſt deiner Weisheit Spiegel.
Du, Luft und Meer! ihr, Auen, Thal und Huͤgel!
Jhr ſeyd ſein Loblied und ſein Pſalm.


Da liegt nun der von ſeinen Freunden verlaßne bluͤhende Gar-
ten, von rauhen Luͤften durchſchauert und jetzt ein Horſt fuͤr
Ungeziefer! Aber ich will ihn noch jetzt mit meinen beſten Gedan-
ken beſuchen; mich nachdenkend an das Blumenbeet ſtellen
und Gott loben.

Die tauſendfach ſpielende Farben, verſchieden in ihrer Art
und doch gleich ſchoͤn! Die ſanfte Verſchmelzung jeder Farbe in
die andre! Unnachahmliche Streifen, Puͤnktchen und Schattie-
rungen! Welche ſuͤſſe Wohlgeruͤche duftete auch das kleinſte
Bluͤmchen umher! das alles empfand ich. Aber fuͤhlte ich auch wol
den groſſen Gedanken: daß der Urheber ſo vieler Schoͤnheiten dis
alles nicht fuͤr ſich ſchuf, und daß er meiner, um deſſentwillen er
ſie ſchuf, nicht bedarf? Verſank ich in dieſen Abgrund von Guͤte,
oder ſah ich auf die beſcheidne Blumen, mit weniger Ruͤhrung, mit
geringerm Beifall herab, als auf das ſtolzſchimmernde Gewebe
des Seidenwurms, das einen vornehmen Laſterknecht deckte?

Welch ein Rang, auch im Blumenreiche! Von der hohen
Lilie bis zum demuͤtigen Veilchen iſt alles ſchoͤn. Menſch! fuͤll dein
Fach aus, und ſchraͤnk dich, ohne Neid oder Verachtung, auf
deinen Poſten ein: ſo ehreſt du die Wege der Vorſicht, und findeſt

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[349[379]/0386] Der 17te Junius. Wer kan die Pracht Von deinen Wundern faſſen? Ein jeder Staub, den du haſt werden laſſen, Verkuͤndigt Schoͤpfer! deine Macht. Der kleinſte Halm Jſt deiner Weisheit Spiegel. Du, Luft und Meer! ihr, Auen, Thal und Huͤgel! Jhr ſeyd ſein Loblied und ſein Pſalm. Da liegt nun der von ſeinen Freunden verlaßne bluͤhende Gar- ten, von rauhen Luͤften durchſchauert und jetzt ein Horſt fuͤr Ungeziefer! Aber ich will ihn noch jetzt mit meinen beſten Gedan- ken beſuchen; mich nachdenkend an das Blumenbeet ſtellen und Gott loben. Die tauſendfach ſpielende Farben, verſchieden in ihrer Art und doch gleich ſchoͤn! Die ſanfte Verſchmelzung jeder Farbe in die andre! Unnachahmliche Streifen, Puͤnktchen und Schattie- rungen! Welche ſuͤſſe Wohlgeruͤche duftete auch das kleinſte Bluͤmchen umher! das alles empfand ich. Aber fuͤhlte ich auch wol den groſſen Gedanken: daß der Urheber ſo vieler Schoͤnheiten dis alles nicht fuͤr ſich ſchuf, und daß er meiner, um deſſentwillen er ſie ſchuf, nicht bedarf? Verſank ich in dieſen Abgrund von Guͤte, oder ſah ich auf die beſcheidne Blumen, mit weniger Ruͤhrung, mit geringerm Beifall herab, als auf das ſtolzſchimmernde Gewebe des Seidenwurms, das einen vornehmen Laſterknecht deckte? Welch ein Rang, auch im Blumenreiche! Von der hohen Lilie bis zum demuͤtigen Veilchen iſt alles ſchoͤn. Menſch! fuͤll dein Fach aus, und ſchraͤnk dich, ohne Neid oder Verachtung, auf deinen Poſten ein: ſo ehreſt du die Wege der Vorſicht, und findeſt in

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Zitationshilfe: Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 349[379]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/386>, abgerufen am 21.11.2024.