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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775.

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Der 17te Junius.
in deiner Art Verehrer. Dimkel und einsam stehet jetzt das Blu-
menbeet da, wie ein verborgner Tugendhafter, dessen Vollkom-
menheit erst am grossen Gerichtstage bekant wird. Jedoch, bald
wird der Thau der Morgenröthe den Leim der Rosenknospe auflö-
sen, und ihre Schönheit entfalten. So entfalteten Eltern und Lehrer
mein junges Herz. Sie stärkten es frühzeitig gegen die Hitze der
Leidenschaften, und gegen die Widerwärtigkeiten des Mittags
meines Lebens. Aber welche Jnsekten schwärmen nicht um Blu-
men und junge Gemüther umher, auf deren Kosten sie sich zu
nähren und zu vergnügen suchen! -- So unsichtbar auch jetzt
das Blumenbeet ist, so hauchet es dennoch balsamische Dünste in
die Atmosphäre. So decket Todesnacht den Gerechten: aber
seine Tugend verbreitet noch Wohlgeruch. Wann einst der Hügel
meines Grabes von Linden beschattet, oder vom stillen Schimmer
des Mondes erhellet wird: dann sey er so ehrwürdig und lehrreich
dem Frommen, als es mir jetzt ein Blumenbeet ist!

Unendlich Gütiger! Dank sey dir, daß du mir Sinne gabst,
die Schönheit deiner Schöpfung zu fühlen; und ein Herz, das
fähig ist, sie dankbar zu empfinden! Laß mich stets schuldlos und
so rein, als die Blumen der Morgenröthe entgegen schmachten,
mein Haupt zu dir aufheben, bis sich meine Erlösung nahet. Laß
mich die Freuden, zu welchen du mich erschufst, zu deinem Ruhme
schmecken. Aber freilich sind alle Rabatten für meinen Geist zu
klein, zu armselig; denn ich verlange nichts geringers als den
Himmel. Und diesen, mein Heiland! erwarbst du mir. Dein
Leiden fing sich im Garten an: das heilige meine Gedanken am
Blumenbeet! Jch dürfte mich nicht freuen, und die Orangerie
wäre ein Dornenstrauch für mich, wenn du nicht die Handschrift,
die wider mich war, zerrissen und mich losgesprochen hättest. Du
wurdest im Garten begraben; Gräber der Frommen sind die schön;
sten Blumenbeete der Natur. Jch will so leben, daß ich dereinst man-
che stille, dich lobende Zähre, auf mein Grab hinfliessen möge!

Der

Der 17te Junius.
in deiner Art Verehrer. Dimkel und einſam ſtehet jetzt das Blu-
menbeet da, wie ein verborgner Tugendhafter, deſſen Vollkom-
menheit erſt am groſſen Gerichtstage bekant wird. Jedoch, bald
wird der Thau der Morgenroͤthe den Leim der Roſenknoſpe aufloͤ-
ſen, und ihre Schoͤnheit entfalten. So entfalteten Eltern und Lehrer
mein junges Herz. Sie ſtaͤrkten es fruͤhzeitig gegen die Hitze der
Leidenſchaften, und gegen die Widerwaͤrtigkeiten des Mittags
meines Lebens. Aber welche Jnſekten ſchwaͤrmen nicht um Blu-
men und junge Gemuͤther umher, auf deren Koſten ſie ſich zu
naͤhren und zu vergnuͤgen ſuchen! — So unſichtbar auch jetzt
das Blumenbeet iſt, ſo hauchet es dennoch balſamiſche Duͤnſte in
die Atmosphaͤre. So decket Todesnacht den Gerechten: aber
ſeine Tugend verbreitet noch Wohlgeruch. Wann einſt der Huͤgel
meines Grabes von Linden beſchattet, oder vom ſtillen Schimmer
des Mondes erhellet wird: dann ſey er ſo ehrwuͤrdig und lehrreich
dem Frommen, als es mir jetzt ein Blumenbeet iſt!

Unendlich Guͤtiger! Dank ſey dir, daß du mir Sinne gabſt,
die Schoͤnheit deiner Schoͤpfung zu fuͤhlen; und ein Herz, das
faͤhig iſt, ſie dankbar zu empfinden! Laß mich ſtets ſchuldlos und
ſo rein, als die Blumen der Morgenroͤthe entgegen ſchmachten,
mein Haupt zu dir aufheben, bis ſich meine Erloͤſung nahet. Laß
mich die Freuden, zu welchen du mich erſchufſt, zu deinem Ruhme
ſchmecken. Aber freilich ſind alle Rabatten fuͤr meinen Geiſt zu
klein, zu armſelig; denn ich verlange nichts geringers als den
Himmel. Und dieſen, mein Heiland! erwarbſt du mir. Dein
Leiden fing ſich im Garten an: das heilige meine Gedanken am
Blumenbeet! Jch duͤrfte mich nicht freuen, und die Orangerie
waͤre ein Dornenſtrauch fuͤr mich, wenn du nicht die Handſchrift,
die wider mich war, zerriſſen und mich losgeſprochen haͤtteſt. Du
wurdeſt im Garten begraben; Graͤber der Frommen ſind die ſchoͤn;
ſten Blumenbeete der Natur. Jch will ſo leben, daß ich dereinſt man-
che ſtille, dich lobende Zaͤhre, auf mein Grab hinflieſſen moͤge!

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[350[380]/0387] Der 17te Junius. in deiner Art Verehrer. Dimkel und einſam ſtehet jetzt das Blu- menbeet da, wie ein verborgner Tugendhafter, deſſen Vollkom- menheit erſt am groſſen Gerichtstage bekant wird. Jedoch, bald wird der Thau der Morgenroͤthe den Leim der Roſenknoſpe aufloͤ- ſen, und ihre Schoͤnheit entfalten. So entfalteten Eltern und Lehrer mein junges Herz. Sie ſtaͤrkten es fruͤhzeitig gegen die Hitze der Leidenſchaften, und gegen die Widerwaͤrtigkeiten des Mittags meines Lebens. Aber welche Jnſekten ſchwaͤrmen nicht um Blu- men und junge Gemuͤther umher, auf deren Koſten ſie ſich zu naͤhren und zu vergnuͤgen ſuchen! — So unſichtbar auch jetzt das Blumenbeet iſt, ſo hauchet es dennoch balſamiſche Duͤnſte in die Atmosphaͤre. So decket Todesnacht den Gerechten: aber ſeine Tugend verbreitet noch Wohlgeruch. Wann einſt der Huͤgel meines Grabes von Linden beſchattet, oder vom ſtillen Schimmer des Mondes erhellet wird: dann ſey er ſo ehrwuͤrdig und lehrreich dem Frommen, als es mir jetzt ein Blumenbeet iſt! Unendlich Guͤtiger! Dank ſey dir, daß du mir Sinne gabſt, die Schoͤnheit deiner Schoͤpfung zu fuͤhlen; und ein Herz, das faͤhig iſt, ſie dankbar zu empfinden! Laß mich ſtets ſchuldlos und ſo rein, als die Blumen der Morgenroͤthe entgegen ſchmachten, mein Haupt zu dir aufheben, bis ſich meine Erloͤſung nahet. Laß mich die Freuden, zu welchen du mich erſchufſt, zu deinem Ruhme ſchmecken. Aber freilich ſind alle Rabatten fuͤr meinen Geiſt zu klein, zu armſelig; denn ich verlange nichts geringers als den Himmel. Und dieſen, mein Heiland! erwarbſt du mir. Dein Leiden fing ſich im Garten an: das heilige meine Gedanken am Blumenbeet! Jch duͤrfte mich nicht freuen, und die Orangerie waͤre ein Dornenſtrauch fuͤr mich, wenn du nicht die Handſchrift, die wider mich war, zerriſſen und mich losgeſprochen haͤtteſt. Du wurdeſt im Garten begraben; Graͤber der Frommen ſind die ſchoͤn; ſten Blumenbeete der Natur. Jch will ſo leben, daß ich dereinſt man- che ſtille, dich lobende Zaͤhre, auf mein Grab hinflieſſen moͤge! Der

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Zitationshilfe: Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 350[380]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/387>, abgerufen am 21.11.2024.