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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775.

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Der 22te Junius.
Bin ich nicht Staub wie alle meine Väter?
Bin ich vor dir, Herr! nicht ein Uebertreter?
Thu ich zu viel, wenn ich die schweren Tage
Standhaft ertrage?


Mit welchem Rechte darf ich doch lauter gute Tage in einer
mühseligen, sündigen Welt erwarten? Jch werde mein
Antheil derselben gewiß bekommen, und um desto mehr, je weni-
ger ich ängstlich danach laufe. Und was erjage ich mir denn
durch unbillige Klagen und glerige Wünsche? Jst es nicht
gotteslästerlich, zu glauben, daß sich Gott an meiner Qual be-
lustige? O! wäre es irgend nach seiner Güte im Ganzen be-
trachtet möglich: er höbe allen meinen Kummer hinweg; denn
er hat mich ja zu ewigen Freuden bestimmt!

Kinder weinen; die mehrste Zeit um ein Nichts und aus
Eigensinn. Wie? wenn sie niemals weinten? Antwort: dann
würden sie schwerlich gesund bleiben. Jst ihr Geschrei nur nicht
zu übermäßig, so dienet es ihnen zu einer Bewegung, und stär-
kenden Erschütterung der innern Theile des Körpers. Wir Er-
wachsenen weinen nach unserer Art auch, wenigstens seufzen wir
und runzeln die Stirne, wenn Herz und Augen zu hart und dürre
zu Thränen sind. Aber was fehlet uns? eine Kleinigkeit, ein
blendendes Nichts! Jedoch mein Leiden sey das größte: ent-
weder habe ich es verschuldet, und mit wem hadre ich dann?
oder es ist unverschuldet: desto besser für mich! Jesus allein
litt unschuldig, und murrte nicht. Heute solst du mit mir im
Paradiese seyn: dis ist ein Beruhigungsmittel und Trost, wenn
auch die Hölle auf mir läge. Christen ist es schimpflich, bestän-
dig zu wimmern.

Engel!
Z 4


Der 22te Junius.
Bin ich nicht Staub wie alle meine Vaͤter?
Bin ich vor dir, Herr! nicht ein Uebertreter?
Thu ich zu viel, wenn ich die ſchweren Tage
Standhaft ertrage?


Mit welchem Rechte darf ich doch lauter gute Tage in einer
muͤhſeligen, ſuͤndigen Welt erwarten? Jch werde mein
Antheil derſelben gewiß bekommen, und um deſto mehr, je weni-
ger ich aͤngſtlich danach laufe. Und was erjage ich mir denn
durch unbillige Klagen und glerige Wuͤnſche? Jſt es nicht
gotteslaͤſterlich, zu glauben, daß ſich Gott an meiner Qual be-
luſtige? O! waͤre es irgend nach ſeiner Guͤte im Ganzen be-
trachtet moͤglich: er hoͤbe allen meinen Kummer hinweg; denn
er hat mich ja zu ewigen Freuden beſtimmt!

Kinder weinen; die mehrſte Zeit um ein Nichts und aus
Eigenſinn. Wie? wenn ſie niemals weinten? Antwort: dann
wuͤrden ſie ſchwerlich geſund bleiben. Jſt ihr Geſchrei nur nicht
zu uͤbermaͤßig, ſo dienet es ihnen zu einer Bewegung, und ſtaͤr-
kenden Erſchuͤtterung der innern Theile des Koͤrpers. Wir Er-
wachſenen weinen nach unſerer Art auch, wenigſtens ſeufzen wir
und runzeln die Stirne, wenn Herz und Augen zu hart und duͤrre
zu Thraͤnen ſind. Aber was fehlet uns? eine Kleinigkeit, ein
blendendes Nichts! Jedoch mein Leiden ſey das groͤßte: ent-
weder habe ich es verſchuldet, und mit wem hadre ich dann?
oder es iſt unverſchuldet: deſto beſſer fuͤr mich! Jeſus allein
litt unſchuldig, und murrte nicht. Heute ſolſt du mit mir im
Paradieſe ſeyn: dis iſt ein Beruhigungsmittel und Troſt, wenn
auch die Hoͤlle auf mir laͤge. Chriſten iſt es ſchimpflich, beſtaͤn-
dig zu wimmern.

Engel!
Z 4
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[359[389]/0396] Der 22te Junius. Bin ich nicht Staub wie alle meine Vaͤter? Bin ich vor dir, Herr! nicht ein Uebertreter? Thu ich zu viel, wenn ich die ſchweren Tage Standhaft ertrage? Mit welchem Rechte darf ich doch lauter gute Tage in einer muͤhſeligen, ſuͤndigen Welt erwarten? Jch werde mein Antheil derſelben gewiß bekommen, und um deſto mehr, je weni- ger ich aͤngſtlich danach laufe. Und was erjage ich mir denn durch unbillige Klagen und glerige Wuͤnſche? Jſt es nicht gotteslaͤſterlich, zu glauben, daß ſich Gott an meiner Qual be- luſtige? O! waͤre es irgend nach ſeiner Guͤte im Ganzen be- trachtet moͤglich: er hoͤbe allen meinen Kummer hinweg; denn er hat mich ja zu ewigen Freuden beſtimmt! Kinder weinen; die mehrſte Zeit um ein Nichts und aus Eigenſinn. Wie? wenn ſie niemals weinten? Antwort: dann wuͤrden ſie ſchwerlich geſund bleiben. Jſt ihr Geſchrei nur nicht zu uͤbermaͤßig, ſo dienet es ihnen zu einer Bewegung, und ſtaͤr- kenden Erſchuͤtterung der innern Theile des Koͤrpers. Wir Er- wachſenen weinen nach unſerer Art auch, wenigſtens ſeufzen wir und runzeln die Stirne, wenn Herz und Augen zu hart und duͤrre zu Thraͤnen ſind. Aber was fehlet uns? eine Kleinigkeit, ein blendendes Nichts! Jedoch mein Leiden ſey das groͤßte: ent- weder habe ich es verſchuldet, und mit wem hadre ich dann? oder es iſt unverſchuldet: deſto beſſer fuͤr mich! Jeſus allein litt unſchuldig, und murrte nicht. Heute ſolſt du mit mir im Paradieſe ſeyn: dis iſt ein Beruhigungsmittel und Troſt, wenn auch die Hoͤlle auf mir laͤge. Chriſten iſt es ſchimpflich, beſtaͤn- dig zu wimmern. Engel! Z 4

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Zitationshilfe: Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 359[389]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/396>, abgerufen am 24.11.2024.