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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775.

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Der 22te Junius.

Engel! die ihr mit mächtigem Schilde dem leidenden Men-
schen zur Seite gehet, und ihn vor allem Unfall beschützt, so
lange er euch nicht von sich hinwegstößt! Menschenfreunde! die
ihr die Absichten des Allgütigen bei jedem Streiche des Schick-
sals kennet! wie groß muß euch die Liebe Gottes erscheinen, wenn
ihr täglich seine Langmuth mit den rebellischen Erdenkindern be-
merkt! Jhr wißt: wie jedes Kreuz dem Menschen Arzenei ist;
ihr preiset Gott für unsre Züchtigungen: wir aber schimpfen und
murren! Jhr wißt: daß wir bald eure Gesellschafter im Him-
mel werden sollen, und sehet zugleich wie unhimlisch wir uns gegen
den Allerhöchsten verhalten. O! wäret ihr nicht im Guten so
sehr befestiget: ihr müßtet Menschenfeinde werden. Oft haschen
wir nach Gift und schreien über Gewalt, wenn ihr es uns lieb-
reich hinwegnehmt! Oft taumeln wir am Rande des Abgrunds,
ihr ziehet uns mit barmherziger Gewalt zurück: und wir klagen
bitter über Beschädigung und verrenkte Glieder! Ach Schutz-
engel! welchen Dienst habt ihr bei uns kindischen Menschen!

Liebreicher Gott! und vieleicht am liebreichsten, wenn ich
mich über deine Strenge beschwere! Wie viel Gutes und Barm-
herzigkeit folgen mir nicht schon mein Leben lang! Jch sehe auf
dem Throne des Himmels ein für mich wallendes Vaterherz;
mein göttlicher Bruder mit seinen für mich ofnen Wunden sitzet
zur Rechten des Vaters! Der ganze Himmel sieht freundschaft-
lich auf mich herab, so bald ich bete oder tugendhaft bin! Jch
habe die Erlaubniß, ich habe den Befehl, ewige Seligkeiten
meine Erbe zu nennen! Meine jetzigen bethränten Kinderjahre
sind nun bald überstanden! Sehe ich mit weinenden Augen
nur zuversichtlich zum Allmächtigen hinauf: so trocknet er mir
tröstend die Thränen ab. Und ob eine Mutter ihres Kindes
vergässe, so wirst doch du, himlischer Vater! meiner nicht ver-
gessen, Berge weichen, Hügel fallen hin! aber deine Gnade
kan nicht von mir weichen: denn du bist der Herr, mein Er-
barmer!

Der
Der 22te Junius.

Engel! die ihr mit maͤchtigem Schilde dem leidenden Men-
ſchen zur Seite gehet, und ihn vor allem Unfall beſchuͤtzt, ſo
lange er euch nicht von ſich hinwegſtoͤßt! Menſchenfreunde! die
ihr die Abſichten des Allguͤtigen bei jedem Streiche des Schick-
ſals kennet! wie groß muß euch die Liebe Gottes erſcheinen, wenn
ihr taͤglich ſeine Langmuth mit den rebelliſchen Erdenkindern be-
merkt! Jhr wißt: wie jedes Kreuz dem Menſchen Arzenei iſt;
ihr preiſet Gott fuͤr unſre Zuͤchtigungen: wir aber ſchimpfen und
murren! Jhr wißt: daß wir bald eure Geſellſchafter im Him-
mel werden ſollen, und ſehet zugleich wie unhimliſch wir uns gegen
den Allerhoͤchſten verhalten. O! waͤret ihr nicht im Guten ſo
ſehr befeſtiget: ihr muͤßtet Menſchenfeinde werden. Oft haſchen
wir nach Gift und ſchreien uͤber Gewalt, wenn ihr es uns lieb-
reich hinwegnehmt! Oft taumeln wir am Rande des Abgrunds,
ihr ziehet uns mit barmherziger Gewalt zuruͤck: und wir klagen
bitter uͤber Beſchaͤdigung und verrenkte Glieder! Ach Schutz-
engel! welchen Dienſt habt ihr bei uns kindiſchen Menſchen!

Liebreicher Gott! und vieleicht am liebreichſten, wenn ich
mich uͤber deine Strenge beſchwere! Wie viel Gutes und Barm-
herzigkeit folgen mir nicht ſchon mein Leben lang! Jch ſehe auf
dem Throne des Himmels ein fuͤr mich wallendes Vaterherz;
mein goͤttlicher Bruder mit ſeinen fuͤr mich ofnen Wunden ſitzet
zur Rechten des Vaters! Der ganze Himmel ſieht freundſchaft-
lich auf mich herab, ſo bald ich bete oder tugendhaft bin! Jch
habe die Erlaubniß, ich habe den Befehl, ewige Seligkeiten
meine Erbe zu nennen! Meine jetzigen bethraͤnten Kinderjahre
ſind nun bald uͤberſtanden! Sehe ich mit weinenden Augen
nur zuverſichtlich zum Allmaͤchtigen hinauf: ſo trocknet er mir
troͤſtend die Thraͤnen ab. Und ob eine Mutter ihres Kindes
vergaͤſſe, ſo wirſt doch du, himliſcher Vater! meiner nicht ver-
geſſen, Berge weichen, Huͤgel fallen hin! aber deine Gnade
kan nicht von mir weichen: denn du biſt der Herr, mein Er-
barmer!

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[360[390]/0397] Der 22te Junius. Engel! die ihr mit maͤchtigem Schilde dem leidenden Men- ſchen zur Seite gehet, und ihn vor allem Unfall beſchuͤtzt, ſo lange er euch nicht von ſich hinwegſtoͤßt! Menſchenfreunde! die ihr die Abſichten des Allguͤtigen bei jedem Streiche des Schick- ſals kennet! wie groß muß euch die Liebe Gottes erſcheinen, wenn ihr taͤglich ſeine Langmuth mit den rebelliſchen Erdenkindern be- merkt! Jhr wißt: wie jedes Kreuz dem Menſchen Arzenei iſt; ihr preiſet Gott fuͤr unſre Zuͤchtigungen: wir aber ſchimpfen und murren! Jhr wißt: daß wir bald eure Geſellſchafter im Him- mel werden ſollen, und ſehet zugleich wie unhimliſch wir uns gegen den Allerhoͤchſten verhalten. O! waͤret ihr nicht im Guten ſo ſehr befeſtiget: ihr muͤßtet Menſchenfeinde werden. Oft haſchen wir nach Gift und ſchreien uͤber Gewalt, wenn ihr es uns lieb- reich hinwegnehmt! Oft taumeln wir am Rande des Abgrunds, ihr ziehet uns mit barmherziger Gewalt zuruͤck: und wir klagen bitter uͤber Beſchaͤdigung und verrenkte Glieder! Ach Schutz- engel! welchen Dienſt habt ihr bei uns kindiſchen Menſchen! Liebreicher Gott! und vieleicht am liebreichſten, wenn ich mich uͤber deine Strenge beſchwere! Wie viel Gutes und Barm- herzigkeit folgen mir nicht ſchon mein Leben lang! Jch ſehe auf dem Throne des Himmels ein fuͤr mich wallendes Vaterherz; mein goͤttlicher Bruder mit ſeinen fuͤr mich ofnen Wunden ſitzet zur Rechten des Vaters! Der ganze Himmel ſieht freundſchaft- lich auf mich herab, ſo bald ich bete oder tugendhaft bin! Jch habe die Erlaubniß, ich habe den Befehl, ewige Seligkeiten meine Erbe zu nennen! Meine jetzigen bethraͤnten Kinderjahre ſind nun bald uͤberſtanden! Sehe ich mit weinenden Augen nur zuverſichtlich zum Allmaͤchtigen hinauf: ſo trocknet er mir troͤſtend die Thraͤnen ab. Und ob eine Mutter ihres Kindes vergaͤſſe, ſo wirſt doch du, himliſcher Vater! meiner nicht ver- geſſen, Berge weichen, Huͤgel fallen hin! aber deine Gnade kan nicht von mir weichen: denn du biſt der Herr, mein Er- barmer! Der

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




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Zitationshilfe: Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 360[390]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/397>, abgerufen am 21.11.2024.