Lebengieriger! verschmäh die Warnung vor Selbstmord nicht! Freilich hat Gott, der Liebhaber unsers Lebens, einen fast unüberwindlichen Abscheu dafür in unsre Brust gepflanzet, und dis Laster faßt eigentlich nur Wurzel in einem harten, von Gewissensbissen narbigten und nicht zu jungen Herzen. Aber welche Unglücksfälle, Milzsucht und Versuchungen können dir nicht noch bevorstehen! Von Lastern ist nicht einmal die Rede, denn jedes derselben hat Anwartschaft auf einen Selbstmord. Der Rasende, welcher heute mit gewafneter Faust auf sich ein- dringt, hatte sich vor einigen Jahren noch so lieb, daß er beim geringsten Katar[unleserliches Material - 1 Zeichen fehlt]h medizinirte. Und jetzt? -- O Gott! stell doch jedem, der verzweifeln will, deine Gnade und deinen Zorn, Himmel und Hölle vor Augen! Die Scham seiner Freunde oder das Hohngelächter seiner Widersacher reisse ihm das verfluchte Messer, die rasende Pistole, den Henkerstrick aus der gelähmten Hand!
Aber ach! auch dieses Laster hat seine Larve. Mit Strick und Pistole kan es nur Narren und Teufeln gefallen. Aber in tugendähnlichen Maske findet es leider mehr als zu viele Liebhaber. Der Säufer will seiner Gesundheit aufhelfen; der Traurige recht- mäßigem Gram nachhängen! der Empfindliche nennet das Gift der Aergerniß Pflicht und Tugendeifer. -- O! der Selbstmord hat seine Sklaven, wie jedes Laster! Sein Leben verkürzen heisset Hand an sich selbst legen. Ob wol die Hälfte der Men- schen eines natürlichen Todes stirbt?
Herr meines Schicksals und meiner Tage! Lehr mich Zu- friedenheit mit deinen allgütigen Wegen! Jch bin dein Pilger und Bürger, wie alle meine Väter. Mein Leben stehet in dei- ner Hand, und warlich mein Glück oder Unglück auch. Weinen will ich, das erlaubst du mir bei deinen Züchtigungen. Aber dennoch bleibe ich stets an dir: denn du hältst mich bei deiner rechten Hand, du leitest mich nach deinem Rath, und nimst mich endlich zu Ehren an.
Der
Der 26te Junius.
Lebengieriger! verſchmaͤh die Warnung vor Selbſtmord nicht! Freilich hat Gott, der Liebhaber unſers Lebens, einen faſt unuͤberwindlichen Abſcheu dafuͤr in unſre Bruſt gepflanzet, und dis Laſter faßt eigentlich nur Wurzel in einem harten, von Gewiſſensbiſſen narbigten und nicht zu jungen Herzen. Aber welche Ungluͤcksfaͤlle, Milzſucht und Verſuchungen koͤnnen dir nicht noch bevorſtehen! Von Laſtern iſt nicht einmal die Rede, denn jedes derſelben hat Anwartſchaft auf einen Selbſtmord. Der Raſende, welcher heute mit gewafneter Fauſt auf ſich ein- dringt, hatte ſich vor einigen Jahren noch ſo lieb, daß er beim geringſten Katar[unleserliches Material – 1 Zeichen fehlt]h medizinirte. Und jetzt? — O Gott! ſtell doch jedem, der verzweifeln will, deine Gnade und deinen Zorn, Himmel und Hoͤlle vor Augen! Die Scham ſeiner Freunde oder das Hohngelaͤchter ſeiner Widerſacher reiſſe ihm das verfluchte Meſſer, die raſende Piſtole, den Henkerſtrick aus der gelaͤhmten Hand!
Aber ach! auch dieſes Laſter hat ſeine Larve. Mit Strick und Piſtole kan es nur Narren und Teufeln gefallen. Aber in tugendaͤhnlichen Maske findet es leider mehr als zu viele Liebhaber. Der Saͤufer will ſeiner Geſundheit aufhelfen; der Traurige recht- maͤßigem Gram nachhaͤngen! der Empfindliche nennet das Gift der Aergerniß Pflicht und Tugendeifer. — O! der Selbſtmord hat ſeine Sklaven, wie jedes Laſter! Sein Leben verkuͤrzen heiſſet Hand an ſich ſelbſt legen. Ob wol die Haͤlfte der Men- ſchen eines natuͤrlichen Todes ſtirbt?
Herr meines Schickſals und meiner Tage! Lehr mich Zu- friedenheit mit deinen allguͤtigen Wegen! Jch bin dein Pilger und Buͤrger, wie alle meine Vaͤter. Mein Leben ſtehet in dei- ner Hand, und warlich mein Gluͤck oder Ungluͤck auch. Weinen will ich, das erlaubſt du mir bei deinen Zuͤchtigungen. Aber dennoch bleibe ich ſtets an dir: denn du haͤltſt mich bei deiner rechten Hand, du leiteſt mich nach deinem Rath, und nimſt mich endlich zu Ehren an.
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Der 26te Junius.
Lebengieriger! verſchmaͤh die Warnung vor Selbſtmord
nicht! Freilich hat Gott, der Liebhaber unſers Lebens, einen
faſt unuͤberwindlichen Abſcheu dafuͤr in unſre Bruſt gepflanzet,
und dis Laſter faßt eigentlich nur Wurzel in einem harten, von
Gewiſſensbiſſen narbigten und nicht zu jungen Herzen. Aber
welche Ungluͤcksfaͤlle, Milzſucht und Verſuchungen koͤnnen dir
nicht noch bevorſtehen! Von Laſtern iſt nicht einmal die Rede,
denn jedes derſelben hat Anwartſchaft auf einen Selbſtmord.
Der Raſende, welcher heute mit gewafneter Fauſt auf ſich ein-
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doch jedem, der verzweifeln will, deine Gnade und deinen Zorn,
Himmel und Hoͤlle vor Augen! Die Scham ſeiner Freunde
oder das Hohngelaͤchter ſeiner Widerſacher reiſſe ihm das verfluchte
Meſſer, die raſende Piſtole, den Henkerſtrick aus der gelaͤhmten
Hand!
Aber ach! auch dieſes Laſter hat ſeine Larve. Mit Strick
und Piſtole kan es nur Narren und Teufeln gefallen. Aber in
tugendaͤhnlichen Maske findet es leider mehr als zu viele Liebhaber.
Der Saͤufer will ſeiner Geſundheit aufhelfen; der Traurige recht-
maͤßigem Gram nachhaͤngen! der Empfindliche nennet das Gift
der Aergerniß Pflicht und Tugendeifer. — O! der Selbſtmord
hat ſeine Sklaven, wie jedes Laſter! Sein Leben verkuͤrzen
heiſſet Hand an ſich ſelbſt legen. Ob wol die Haͤlfte der Men-
ſchen eines natuͤrlichen Todes ſtirbt?
Herr meines Schickſals und meiner Tage! Lehr mich Zu-
friedenheit mit deinen allguͤtigen Wegen! Jch bin dein Pilger
und Buͤrger, wie alle meine Vaͤter. Mein Leben ſtehet in dei-
ner Hand, und warlich mein Gluͤck oder Ungluͤck auch. Weinen
will ich, das erlaubſt du mir bei deinen Zuͤchtigungen. Aber
dennoch bleibe ich ſtets an dir: denn du haͤltſt mich bei deiner
rechten Hand, du leiteſt mich nach deinem Rath, und nimſt
mich endlich zu Ehren an.
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Matthias Boenig, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Li Xang: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription.
(2023-05-24T12:24:22Z)
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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 368[398]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/405>, abgerufen am 23.11.2024.
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