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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775.

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Der 11te Januar.
geistlichen und leiblichen, jeder Othemzug ermahnte mich zur
innigsten Danksagung. Wie oft aber habe ich heute gebetet?

Warum habe ich gebetet? Schielte ich nur auf die Güter
der Erde; und waren meine Wünsche feuriger für dieses, als für
jenes Leben? Wie, wenn Gott sie sämtlich erfüllet hätte, würde
ich alsdann jetzt andächtiger seyn? Und wenn ich das nicht ge-
worden wäre, so waren sie meiner Seele wol gar schädlich! Ein
Gebet um neue Stärke zur Vollendung edler Werke, das ist
erhörlich und heilsamer, als alles Winseln nach Ueberfluß und
guten Tagen. Vater! verzeih mir, wenn ich thörigt bitte,
und erhör mich nicht, wenn ich etwas unnützes begehre!

Wie habe ich heute gebetet? Blos mit den Lippen? Aus
Gewohnheit? Zur Schau? Zum Zeitvertreibe? -- Ach, gü-
tigster Jesu! so lehrtest du mich nicht beten, als du, bei bluti-
gem Schweisse, meine Sünden Gott im Gebete vortrugst! Dein
ganzes Herz war in Arbeit, als du am Kreuze über mich betetest:
und ich lalle so manches Vater Unser ohne Gefühl und Bewußt-
seyn daher? Wenn noch irgend deine Liebe etwas über mein Herz
vermag; wenn ich es noch weiß, was Beten für ein heiliges und
die wichtigste Folgen nach sich ziehendes Geschäfte sey; wenn ich
erwarte, daß du mein letztes Gebet vor meinem Ende liebreich
erhören werdest! o! so laß mich jetzt, laß mich jederzeit in tiefster
Ehrfurcht vor dich treten, meine Blicke und Gedanken bei jedem
Gebete bewachen, und oft und gerne zu dir, mein Heiland! mich
nahen. Gib du meinem Flehen Geist und Nachdruck, und ver-
zeih, denn ich will mich bessern, wenn ich heute zu saumselig und
flatterhaft zum Gebete war!

Ja, du verzeihest dem,
Dem seine Sünden kränken;
Du liebst Barmherzigkeit,
Und wirst auch mir sie schanken.
Der

Der 11te Januar.
geiſtlichen und leiblichen, jeder Othemzug ermahnte mich zur
innigſten Dankſagung. Wie oft aber habe ich heute gebetet?

Warum habe ich gebetet? Schielte ich nur auf die Guͤter
der Erde; und waren meine Wuͤnſche feuriger fuͤr dieſes, als fuͤr
jenes Leben? Wie, wenn Gott ſie ſaͤmtlich erfuͤllet haͤtte, wuͤrde
ich alsdann jetzt andaͤchtiger ſeyn? Und wenn ich das nicht ge-
worden waͤre, ſo waren ſie meiner Seele wol gar ſchaͤdlich! Ein
Gebet um neue Staͤrke zur Vollendung edler Werke, das iſt
erhoͤrlich und heilſamer, als alles Winſeln nach Ueberfluß und
guten Tagen. Vater! verzeih mir, wenn ich thoͤrigt bitte,
und erhoͤr mich nicht, wenn ich etwas unnuͤtzes begehre!

Wie habe ich heute gebetet? Blos mit den Lippen? Aus
Gewohnheit? Zur Schau? Zum Zeitvertreibe? — Ach, guͤ-
tigſter Jeſu! ſo lehrteſt du mich nicht beten, als du, bei bluti-
gem Schweiſſe, meine Suͤnden Gott im Gebete vortrugſt! Dein
ganzes Herz war in Arbeit, als du am Kreuze uͤber mich beteteſt:
und ich lalle ſo manches Vater Unſer ohne Gefuͤhl und Bewußt-
ſeyn daher? Wenn noch irgend deine Liebe etwas uͤber mein Herz
vermag; wenn ich es noch weiß, was Beten fuͤr ein heiliges und
die wichtigſte Folgen nach ſich ziehendes Geſchaͤfte ſey; wenn ich
erwarte, daß du mein letztes Gebet vor meinem Ende liebreich
erhoͤren werdeſt! o! ſo laß mich jetzt, laß mich jederzeit in tiefſter
Ehrfurcht vor dich treten, meine Blicke und Gedanken bei jedem
Gebete bewachen, und oft und gerne zu dir, mein Heiland! mich
nahen. Gib du meinem Flehen Geiſt und Nachdruck, und ver-
zeih, denn ich will mich beſſern, wenn ich heute zu ſaumſelig und
flatterhaft zum Gebete war!

Ja, du verzeiheſt dem,
Dem ſeine Suͤnden kraͤnken;
Du liebſt Barmherzigkeit,
Und wirſt auch mir ſie ſchanken.
Der
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[24[54]/0061] Der 11te Januar. geiſtlichen und leiblichen, jeder Othemzug ermahnte mich zur innigſten Dankſagung. Wie oft aber habe ich heute gebetet? Warum habe ich gebetet? Schielte ich nur auf die Guͤter der Erde; und waren meine Wuͤnſche feuriger fuͤr dieſes, als fuͤr jenes Leben? Wie, wenn Gott ſie ſaͤmtlich erfuͤllet haͤtte, wuͤrde ich alsdann jetzt andaͤchtiger ſeyn? Und wenn ich das nicht ge- worden waͤre, ſo waren ſie meiner Seele wol gar ſchaͤdlich! Ein Gebet um neue Staͤrke zur Vollendung edler Werke, das iſt erhoͤrlich und heilſamer, als alles Winſeln nach Ueberfluß und guten Tagen. Vater! verzeih mir, wenn ich thoͤrigt bitte, und erhoͤr mich nicht, wenn ich etwas unnuͤtzes begehre! Wie habe ich heute gebetet? Blos mit den Lippen? Aus Gewohnheit? Zur Schau? Zum Zeitvertreibe? — Ach, guͤ- tigſter Jeſu! ſo lehrteſt du mich nicht beten, als du, bei bluti- gem Schweiſſe, meine Suͤnden Gott im Gebete vortrugſt! Dein ganzes Herz war in Arbeit, als du am Kreuze uͤber mich beteteſt: und ich lalle ſo manches Vater Unſer ohne Gefuͤhl und Bewußt- ſeyn daher? Wenn noch irgend deine Liebe etwas uͤber mein Herz vermag; wenn ich es noch weiß, was Beten fuͤr ein heiliges und die wichtigſte Folgen nach ſich ziehendes Geſchaͤfte ſey; wenn ich erwarte, daß du mein letztes Gebet vor meinem Ende liebreich erhoͤren werdeſt! o! ſo laß mich jetzt, laß mich jederzeit in tiefſter Ehrfurcht vor dich treten, meine Blicke und Gedanken bei jedem Gebete bewachen, und oft und gerne zu dir, mein Heiland! mich nahen. Gib du meinem Flehen Geiſt und Nachdruck, und ver- zeih, denn ich will mich beſſern, wenn ich heute zu ſaumſelig und flatterhaft zum Gebete war! Ja, du verzeiheſt dem, Dem ſeine Suͤnden kraͤnken; Du liebſt Barmherzigkeit, Und wirſt auch mir ſie ſchanken. Der

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




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Zitationshilfe: Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 24[54]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/61>, abgerufen am 27.11.2024.