Die Sonne steigt, und neue Kraft Verbreitet sie vom längern Pfade: Verbreit, o Herr! der alles schaft, Auch in mein Herz verneute Gnade!
Nach den bisherigen kurzen und dunkeln Wintertagen wird nun das Steigen der Sonne merklich. Es ist als wenn alle Menschen es mit einander verabredet hätten, sich zu sa- gen: daß der Tag schon zunehme. Zwar nimt die Kälte auch zu, aber sie ist doch heitrer, als die dicke Luft der vorhergehenden Monate, und die Sonne giebt uns in den Mittagsstunden schon einen Vorschmack des Frühlings. Kurz: die Hofnung belebet fast jede Brust aufs neue, und jede athmet freier als zuvor.
Man hat schon immer den Menschen die kleine Welt genannt. und so müßte denn jetzt in meiner Seele die Heiterkeit auch zuneh- men; meine träge Andacht müßte einen neuen Schwung bekom- men und mit jedem Tage wachsen! Aber stehe ich nicht vieleicht stille, da alle Sphären sich um mich her bewegen? Die Sonne nimt an Wärme zu und meine Andacht ab? Bald wird nun die- ser glänzende Herold der Grösse und Güte Gottes, mit seinen Stralen die Erde auflockern und Millionen Geschöpfe hervor ru- fen, die jetzt noch zur Ehre Gottes in Sümpfen, Kluft und Ge- mäuer schlafen: und werden mich diese alsdann nicht beschämen? Als sie verstummten und sich schlafen legten, da übertrugen sie es uns Menschen, daß wir den grossen Hausvater für sie mit loben solten. Könten sie, wie wir, den Winter hindurch wachen, so würde weit meht Lob Gottes die Lüfte und Gründe durchschallen, als jetzt; denn die Menschen sind zwar laut genung: aber sie lo- ben -- sich selbst.
Daß
Tiedens Abendand. I. Th. C
Der 16te Januar.
Die Sonne ſteigt, und neue Kraft Verbreitet ſie vom laͤngern Pfade: Verbreit, o Herr! der alles ſchaft, Auch in mein Herz verneute Gnade!
Nach den bisherigen kurzen und dunkeln Wintertagen wird nun das Steigen der Sonne merklich. Es iſt als wenn alle Menſchen es mit einander verabredet haͤtten, ſich zu ſa- gen: daß der Tag ſchon zunehme. Zwar nimt die Kaͤlte auch zu, aber ſie iſt doch heitrer, als die dicke Luft der vorhergehenden Monate, und die Sonne giebt uns in den Mittagsſtunden ſchon einen Vorſchmack des Fruͤhlings. Kurz: die Hofnung belebet faſt jede Bruſt aufs neue, und jede athmet freier als zuvor.
Man hat ſchon immer den Menſchen die kleine Welt genannt. und ſo muͤßte denn jetzt in meiner Seele die Heiterkeit auch zuneh- men; meine traͤge Andacht muͤßte einen neuen Schwung bekom- men und mit jedem Tage wachſen! Aber ſtehe ich nicht vieleicht ſtille, da alle Sphaͤren ſich um mich her bewegen? Die Sonne nimt an Waͤrme zu und meine Andacht ab? Bald wird nun die- ſer glaͤnzende Herold der Groͤſſe und Guͤte Gottes, mit ſeinen Stralen die Erde auflockern und Millionen Geſchoͤpfe hervor ru- fen, die jetzt noch zur Ehre Gottes in Suͤmpfen, Kluft und Ge- maͤuer ſchlafen: und werden mich dieſe alsdann nicht beſchaͤmen? Als ſie verſtummten und ſich ſchlafen legten, da uͤbertrugen ſie es uns Menſchen, daß wir den groſſen Hausvater fuͤr ſie mit loben ſolten. Koͤnten ſie, wie wir, den Winter hindurch wachen, ſo wuͤrde weit meht Lob Gottes die Luͤfte und Gruͤnde durchſchallen, als jetzt; denn die Menſchen ſind zwar laut genung: aber ſie lo- ben — ſich ſelbſt.
Daß
Tiedens Abendand. I. Th. C
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[33[63]/0070]
Der 16te Januar.
Die Sonne ſteigt, und neue Kraft
Verbreitet ſie vom laͤngern Pfade:
Verbreit, o Herr! der alles ſchaft,
Auch in mein Herz verneute Gnade!
Nach den bisherigen kurzen und dunkeln Wintertagen wird
nun das Steigen der Sonne merklich. Es iſt als
wenn alle Menſchen es mit einander verabredet haͤtten, ſich zu ſa-
gen: daß der Tag ſchon zunehme. Zwar nimt die Kaͤlte auch zu,
aber ſie iſt doch heitrer, als die dicke Luft der vorhergehenden
Monate, und die Sonne giebt uns in den Mittagsſtunden ſchon
einen Vorſchmack des Fruͤhlings. Kurz: die Hofnung belebet
faſt jede Bruſt aufs neue, und jede athmet freier als zuvor.
Man hat ſchon immer den Menſchen die kleine Welt genannt.
und ſo muͤßte denn jetzt in meiner Seele die Heiterkeit auch zuneh-
men; meine traͤge Andacht muͤßte einen neuen Schwung bekom-
men und mit jedem Tage wachſen! Aber ſtehe ich nicht vieleicht
ſtille, da alle Sphaͤren ſich um mich her bewegen? Die Sonne
nimt an Waͤrme zu und meine Andacht ab? Bald wird nun die-
ſer glaͤnzende Herold der Groͤſſe und Guͤte Gottes, mit ſeinen
Stralen die Erde auflockern und Millionen Geſchoͤpfe hervor ru-
fen, die jetzt noch zur Ehre Gottes in Suͤmpfen, Kluft und Ge-
maͤuer ſchlafen: und werden mich dieſe alsdann nicht beſchaͤmen?
Als ſie verſtummten und ſich ſchlafen legten, da uͤbertrugen ſie es
uns Menſchen, daß wir den groſſen Hausvater fuͤr ſie mit loben
ſolten. Koͤnten ſie, wie wir, den Winter hindurch wachen, ſo
wuͤrde weit meht Lob Gottes die Luͤfte und Gruͤnde durchſchallen,
als jetzt; denn die Menſchen ſind zwar laut genung: aber ſie lo-
ben — ſich ſelbſt.
Daß
Tiedens Abendand. I. Th. C
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Matthias Boenig, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Li Xang: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription.
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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 33[63]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/70>, abgerufen am 27.11.2024.
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