Gott! hättest du, wenn Roth mich kränket, Nicht Hofnung mir ins Herz gesenket: Wie traurig wäre da mein Loos! Denn, reißt mich gleich ein Sturm darnieder: Die mächtge Hofnung hebt mich wieder! Durch sie bleib ich, auch sinkend, groß.
Des Todes Bruder, dem Schlafe sich überliefern; einen Tag, einen Monat, ein neues Jahr antreten; Stockungen im Körper und Abnahme am Geist verspüren: das alles müßte mit Zittern geschehen, wenn wir bedächten, daß der Ausgang für uns fürchterlich seyn dürfte. Aber wir sind Kinder der Hofnung; nur sehr Vernünftigen fällt es ein, des Herrn Beistand bei allen solchen Vorfällen zu erflehen. Die meisten Menschen gehen, so zu sagen, mit verbundenen Augen über den Abgründen auf schmalem Pfad einher, ohne sich an Gott fest zu halten; sondern sich und ihrer schon so oft bestraften Thorheit überlassen, hoffen sie immer das beste.
So gemißbraucht aber auch der angeborne Trieb der Hofnung ist, so bleibt er dennoch ein so nützliches als gemeinhin unbemerktes Geschenk der gütigen Vorsicht. Es ist ein unnatürli- cher Zustand, ohne alle Hofnung zu seyn; und die Verzweiflung ist eine Krankheit des Körpers, oder Verrückung des Verstandes. Wer gesund an Leib und Seele ist, den läßt Hofnung nicht zu schanden werden. Aber ohne Gnade Gottes sind und bleiben wir krank und hoffen ohne Grund. Der Leichtsinnige, welcher sich jetzt ohne Vergebung seiner Sünden schlafen legt: warum ist er so sicher, da doch gewiß einige in dieser Nacht plötzlich versterben werden? Mit welcher Wahrscheinlichkeit getrauet sich der Laster- hafte dieses Jahr gesund zu beschliessen? Und getrauete er sichs
nicht,
Der 21te Januar.
Gott! haͤtteſt du, wenn Roth mich kraͤnket, Nicht Hofnung mir ins Herz geſenket: Wie traurig waͤre da mein Loos! Denn, reißt mich gleich ein Sturm darnieder: Die maͤchtge Hofnung hebt mich wieder! Durch ſie bleib ich, auch ſinkend, groß.
Des Todes Bruder, dem Schlafe ſich uͤberliefern; einen Tag, einen Monat, ein neues Jahr antreten; Stockungen im Koͤrper und Abnahme am Geiſt verſpuͤren: das alles muͤßte mit Zittern geſchehen, wenn wir bedaͤchten, daß der Ausgang fuͤr uns fuͤrchterlich ſeyn duͤrfte. Aber wir ſind Kinder der Hofnung; nur ſehr Vernuͤnftigen faͤllt es ein, des Herrn Beiſtand bei allen ſolchen Vorfaͤllen zu erflehen. Die meiſten Menſchen gehen, ſo zu ſagen, mit verbundenen Augen uͤber den Abgruͤnden auf ſchmalem Pfad einher, ohne ſich an Gott feſt zu halten; ſondern ſich und ihrer ſchon ſo oft beſtraften Thorheit uͤberlaſſen, hoffen ſie immer das beſte.
So gemißbraucht aber auch der angeborne Trieb der Hofnung iſt, ſo bleibt er dennoch ein ſo nuͤtzliches als gemeinhin unbemerktes Geſchenk der guͤtigen Vorſicht. Es iſt ein unnatuͤrli- cher Zuſtand, ohne alle Hofnung zu ſeyn; und die Verzweiflung iſt eine Krankheit des Koͤrpers, oder Verruͤckung des Verſtandes. Wer geſund an Leib und Seele iſt, den laͤßt Hofnung nicht zu ſchanden werden. Aber ohne Gnade Gottes ſind und bleiben wir krank und hoffen ohne Grund. Der Leichtſinnige, welcher ſich jetzt ohne Vergebung ſeiner Suͤnden ſchlafen legt: warum iſt er ſo ſicher, da doch gewiß einige in dieſer Nacht ploͤtzlich verſterben werden? Mit welcher Wahrſcheinlichkeit getrauet ſich der Laſter- hafte dieſes Jahr geſund zu beſchlieſſen? Und getrauete er ſichs
nicht,
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0080"n="43[73]"/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><lb/><divn="3"><head><hirendition="#b">Der 21<hirendition="#sup">te</hi> Januar.</hi></head><lb/><lgtype="poem"><l><hirendition="#in">G</hi>ott! haͤtteſt du, wenn Roth mich kraͤnket,</l><lb/><l>Nicht Hofnung mir ins Herz geſenket:</l><lb/><l>Wie traurig waͤre da mein Loos!</l><lb/><l>Denn, reißt mich gleich ein Sturm darnieder:</l><lb/><l>Die maͤchtge Hofnung hebt mich wieder!</l><lb/><l>Durch ſie bleib ich, auch ſinkend, groß.</l></lg><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><lb/><p><hirendition="#in">D</hi>es Todes Bruder, dem Schlafe ſich uͤberliefern; einen Tag,<lb/>
einen Monat, ein neues Jahr antreten; Stockungen im<lb/>
Koͤrper und Abnahme am Geiſt verſpuͤren: das alles muͤßte mit<lb/>
Zittern geſchehen, wenn wir bedaͤchten, daß der Ausgang fuͤr uns<lb/>
fuͤrchterlich ſeyn duͤrfte. Aber wir ſind Kinder der Hofnung; nur<lb/>ſehr Vernuͤnftigen faͤllt es ein, des Herrn Beiſtand bei allen ſolchen<lb/>
Vorfaͤllen zu erflehen. Die meiſten Menſchen gehen, ſo zu ſagen,<lb/>
mit verbundenen Augen uͤber den Abgruͤnden auf ſchmalem Pfad<lb/>
einher, ohne ſich an Gott feſt zu halten; ſondern ſich und ihrer ſchon<lb/>ſo oft beſtraften Thorheit uͤberlaſſen, hoffen ſie immer das beſte.</p><lb/><p>So gemißbraucht aber auch <hirendition="#fr">der angeborne Trieb der<lb/>
Hofnung</hi> iſt, ſo bleibt er dennoch ein ſo nuͤtzliches als gemeinhin<lb/>
unbemerktes Geſchenk der guͤtigen Vorſicht. Es iſt ein unnatuͤrli-<lb/>
cher Zuſtand, ohne alle Hofnung zu ſeyn; und die Verzweiflung<lb/>
iſt eine Krankheit des Koͤrpers, oder Verruͤckung des Verſtandes.<lb/>
Wer geſund an Leib und Seele iſt, den laͤßt Hofnung nicht zu<lb/>ſchanden werden. Aber ohne Gnade Gottes ſind und bleiben wir<lb/>
krank und hoffen ohne Grund. Der Leichtſinnige, welcher ſich<lb/>
jetzt ohne Vergebung ſeiner Suͤnden ſchlafen legt: warum iſt er<lb/>ſo ſicher, da doch gewiß einige in dieſer Nacht ploͤtzlich verſterben<lb/>
werden? Mit welcher Wahrſcheinlichkeit getrauet ſich der Laſter-<lb/>
hafte dieſes Jahr geſund zu beſchlieſſen? Und getrauete er ſichs<lb/><fwplace="bottom"type="catch">nicht,</fw><lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[43[73]/0080]
Der 21te Januar.
Gott! haͤtteſt du, wenn Roth mich kraͤnket,
Nicht Hofnung mir ins Herz geſenket:
Wie traurig waͤre da mein Loos!
Denn, reißt mich gleich ein Sturm darnieder:
Die maͤchtge Hofnung hebt mich wieder!
Durch ſie bleib ich, auch ſinkend, groß.
Des Todes Bruder, dem Schlafe ſich uͤberliefern; einen Tag,
einen Monat, ein neues Jahr antreten; Stockungen im
Koͤrper und Abnahme am Geiſt verſpuͤren: das alles muͤßte mit
Zittern geſchehen, wenn wir bedaͤchten, daß der Ausgang fuͤr uns
fuͤrchterlich ſeyn duͤrfte. Aber wir ſind Kinder der Hofnung; nur
ſehr Vernuͤnftigen faͤllt es ein, des Herrn Beiſtand bei allen ſolchen
Vorfaͤllen zu erflehen. Die meiſten Menſchen gehen, ſo zu ſagen,
mit verbundenen Augen uͤber den Abgruͤnden auf ſchmalem Pfad
einher, ohne ſich an Gott feſt zu halten; ſondern ſich und ihrer ſchon
ſo oft beſtraften Thorheit uͤberlaſſen, hoffen ſie immer das beſte.
So gemißbraucht aber auch der angeborne Trieb der
Hofnung iſt, ſo bleibt er dennoch ein ſo nuͤtzliches als gemeinhin
unbemerktes Geſchenk der guͤtigen Vorſicht. Es iſt ein unnatuͤrli-
cher Zuſtand, ohne alle Hofnung zu ſeyn; und die Verzweiflung
iſt eine Krankheit des Koͤrpers, oder Verruͤckung des Verſtandes.
Wer geſund an Leib und Seele iſt, den laͤßt Hofnung nicht zu
ſchanden werden. Aber ohne Gnade Gottes ſind und bleiben wir
krank und hoffen ohne Grund. Der Leichtſinnige, welcher ſich
jetzt ohne Vergebung ſeiner Suͤnden ſchlafen legt: warum iſt er
ſo ſicher, da doch gewiß einige in dieſer Nacht ploͤtzlich verſterben
werden? Mit welcher Wahrſcheinlichkeit getrauet ſich der Laſter-
hafte dieſes Jahr geſund zu beſchlieſſen? Und getrauete er ſichs
nicht,
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
Weitere Informationen …
Matthias Boenig, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Li Xang: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription.
(2023-05-24T12:24:22Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 43[73]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/80>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.