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Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887.

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occupation, welche überwunden werden muss. So darf der
Streber kein Bedenken tragen, irgendwelchen Schein anzu-
nehmen, dessen Effect derjenige eines gleichen Wirklichen
sein kann. Was das wahrgesprochene Wort vereiteln würde,
kann die Lüge verbessern. Seine Gefühle zurückzuhalten,
wenn sie hässlich und abscheulich sind, lehrt das Gewissen.
Sie zu verbergen, wo ihre Offenbarung schädlich sein kann,
ist Begriff und Regel gemeiner Lebensklugheit. Aber ihre
Aeusserungen anzunehmen und abzulegen, je nach Forderung
der Umstände, ja oft die Zeichen entgegengesetzter Empfin-
dungen vor sich her zu tragen, als der wirklich gehegten,
vor Allem aber seine Absichten zu verstecken oder doch
Ungewissheit darüber auszubreiten: das ist einer Handlungs-
weise eigen, welche durch Berechnung geleitet wird,
und dies ist der Begriff des Apparates in seiner anderen
Bestimmung. Der Streber will nichts umsonst thun; Alles,
was er thut, soll ihm etwas eintragen; was er ausgibt, soll
in anderer Gestalt zu ihm zurückkehren; er ist stets auf
seinen Vortheil bedacht; er ist interessirt. Der Berechnende
will nur ein endliches Ergebniss; er thut Vieles scheinbar
umsonst, aber in seinem Calcül ist es vorgesehen und nach
seinem Werthe verzeichnet; und der Abschluss seiner
Handlungen soll nicht blos allen Verlust wieder auf heben,
sondern dazu einen Gewinn ergeben, welchem kein Theil
des ursprünglichen Aufwandes entspricht -- dieser Gewinn
ist der Zweck, welcher keine besonderen Mittel gekostet
hat, sondern nur durch richtige Disposition der vorhandenen,
durch Berechnung und Vorbereitung ihres Gebrauches nach
Zeit und Ort, erzielt wird. So zeigt sich Berechnung mehr
in dem Zusammenhange umfassender Handlungen als in
einzelnen kleinen Zügen, Gebahrungen, Reden. Der Stre-
ber sucht seinen Weg, auf welchem er nur eine kurze
Strecke deutlich vor sich sieht; er kennt seine Abhängigkeit
von zufälligen Ereignissen, und hofft auf Glück. Der Be-
rechnende weiss sich überlegen und frei, seiner Zwecke
gewiss und seiner Machtmittel Herr, die er in Gedanken
von sich abhängig hat und nach seinen Beschlüssen lenkt,
wie sehr sie auch in ihren eigenen Bahnen sich zu bewegen
scheinen. Den Complex aber von Erkenntnissen und Mei-

occupation, welche überwunden werden muss. So darf der
Streber kein Bedenken tragen, irgendwelchen Schein anzu-
nehmen, dessen Effect derjenige eines gleichen Wirklichen
sein kann. Was das wahrgesprochene Wort vereiteln würde,
kann die Lüge verbessern. Seine Gefühle zurückzuhalten,
wenn sie hässlich und abscheulich sind, lehrt das Gewissen.
Sie zu verbergen, wo ihre Offenbarung schädlich sein kann,
ist Begriff und Regel gemeiner Lebensklugheit. Aber ihre
Aeusserungen anzunehmen und abzulegen, je nach Forderung
der Umstände, ja oft die Zeichen entgegengesetzter Empfin-
dungen vor sich her zu tragen, als der wirklich gehegten,
vor Allem aber seine Absichten zu verstecken oder doch
Ungewissheit darüber auszubreiten: das ist einer Handlungs-
weise eigen, welche durch Berechnung geleitet wird,
und dies ist der Begriff des Apparates in seiner anderen
Bestimmung. Der Streber will nichts umsonst thun; Alles,
was er thut, soll ihm etwas eintragen; was er ausgibt, soll
in anderer Gestalt zu ihm zurückkehren; er ist stets auf
seinen Vortheil bedacht; er ist interessirt. Der Berechnende
will nur ein endliches Ergebniss; er thut Vieles scheinbar
umsonst, aber in seinem Calcül ist es vorgesehen und nach
seinem Werthe verzeichnet; und der Abschluss seiner
Handlungen soll nicht blos allen Verlust wieder auf heben,
sondern dazu einen Gewinn ergeben, welchem kein Theil
des ursprünglichen Aufwandes entspricht — dieser Gewinn
ist der Zweck, welcher keine besonderen Mittel gekostet
hat, sondern nur durch richtige Disposition der vorhandenen,
durch Berechnung und Vorbereitung ihres Gebrauches nach
Zeit und Ort, erzielt wird. So zeigt sich Berechnung mehr
in dem Zusammenhange umfassender Handlungen als in
einzelnen kleinen Zügen, Gebahrungen, Reden. Der Stre-
ber sucht seinen Weg, auf welchem er nur eine kurze
Strecke deutlich vor sich sieht; er kennt seine Abhängigkeit
von zufälligen Ereignissen, und hofft auf Glück. Der Be-
rechnende weiss sich überlegen und frei, seiner Zwecke
gewiss und seiner Machtmittel Herr, die er in Gedanken
von sich abhängig hat und nach seinen Beschlüssen lenkt,
wie sehr sie auch in ihren eigenen Bahnen sich zu bewegen
scheinen. Den Complex aber von Erkenntnissen und Mei-

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[128/0164] occupation, welche überwunden werden muss. So darf der Streber kein Bedenken tragen, irgendwelchen Schein anzu- nehmen, dessen Effect derjenige eines gleichen Wirklichen sein kann. Was das wahrgesprochene Wort vereiteln würde, kann die Lüge verbessern. Seine Gefühle zurückzuhalten, wenn sie hässlich und abscheulich sind, lehrt das Gewissen. Sie zu verbergen, wo ihre Offenbarung schädlich sein kann, ist Begriff und Regel gemeiner Lebensklugheit. Aber ihre Aeusserungen anzunehmen und abzulegen, je nach Forderung der Umstände, ja oft die Zeichen entgegengesetzter Empfin- dungen vor sich her zu tragen, als der wirklich gehegten, vor Allem aber seine Absichten zu verstecken oder doch Ungewissheit darüber auszubreiten: das ist einer Handlungs- weise eigen, welche durch Berechnung geleitet wird, und dies ist der Begriff des Apparates in seiner anderen Bestimmung. Der Streber will nichts umsonst thun; Alles, was er thut, soll ihm etwas eintragen; was er ausgibt, soll in anderer Gestalt zu ihm zurückkehren; er ist stets auf seinen Vortheil bedacht; er ist interessirt. Der Berechnende will nur ein endliches Ergebniss; er thut Vieles scheinbar umsonst, aber in seinem Calcül ist es vorgesehen und nach seinem Werthe verzeichnet; und der Abschluss seiner Handlungen soll nicht blos allen Verlust wieder auf heben, sondern dazu einen Gewinn ergeben, welchem kein Theil des ursprünglichen Aufwandes entspricht — dieser Gewinn ist der Zweck, welcher keine besonderen Mittel gekostet hat, sondern nur durch richtige Disposition der vorhandenen, durch Berechnung und Vorbereitung ihres Gebrauches nach Zeit und Ort, erzielt wird. So zeigt sich Berechnung mehr in dem Zusammenhange umfassender Handlungen als in einzelnen kleinen Zügen, Gebahrungen, Reden. Der Stre- ber sucht seinen Weg, auf welchem er nur eine kurze Strecke deutlich vor sich sieht; er kennt seine Abhängigkeit von zufälligen Ereignissen, und hofft auf Glück. Der Be- rechnende weiss sich überlegen und frei, seiner Zwecke gewiss und seiner Machtmittel Herr, die er in Gedanken von sich abhängig hat und nach seinen Beschlüssen lenkt, wie sehr sie auch in ihren eigenen Bahnen sich zu bewegen scheinen. Den Complex aber von Erkenntnissen und Mei-

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Zitationshilfe: Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887, S. 128. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887/164>, abgerufen am 24.11.2024.